Sendung zum Nachlesen
Als Studentin arbeitete ich an meiner Universität ehrenamtlich in der Krisenhilfe mit. Die OASE in Bochum. Hier lernte ich Julia kennen. Sie erzählte: „Ich kann nicht mehr. Es muss dringend was passieren. Ich stand gestern an der Straße, guckte, wie die Autos vorbeifuhren und hatte nur den einen Wunsch: Mich fallen zu lassen. Vor irgendein Auto. Mich fallen lassen, überrollt werden und Schluss. Ruhe. Endlich Ruhe in meinem Kopf. Endlich nicht mehr diese Schmerzen.“ Die Schmerzen – das waren Seelenqualen. Tiefe Verlassenheit und Einsamkeit oder Gefühle und Gedanken wie: „Mein Leben hat keinen Sinn. Es wird nie wieder gut. Ich bin ein schlechter Mensch.“ Und dann wachte Julia auf, so hat sie es beschrieben. Irgendetwas in ihr rebellierte gegen diese Macht, die ihr das einflüsterte: „Lass dich fallen“. Die rebellierende Stimme in ihr sagte: „Du bist in höchster Gefahr. Hol dir Hilfe. Bevor du dich wirklich fallen lässt. Es gibt immer einen Ausweg – auch wenn du ihn jetzt nicht siehst! Hol dir Hilfe.“ Und jetzt war sie hier. Und wir halfen ihr, die richtige Hilfe zu finden. Julia hat diesen Moment nie vergessen. Sie weiß jetzt: Suizid folgt nicht aus freier Entscheidung. Menschen, die sich umbringen, denken in dem Moment nicht daran, was sie damit anderen antun. Irgendetwas in ihnen führt sie geradewegs in die ersehnte Ruhe, in den Tod. Alles andere ist ausgeblendet. Woher diese Stimme kam, die sie gerettet hat? Sie weiß es nicht. Vielleicht ein Engel? Vielleicht Gott? Vielleicht einfach der Überlebenswille, der trotz allem in ihr war? Die Therapeuten diagnostizierten eine Depression. Julia hat lange gebraucht, um mit diesen dunklen Schatten leben zu lernen. Sie hat die Depression überwunden. In Deutschland und den USA erkrankt jeder fünfte einmal in seinem Leben an einer Depression. Sie ist behandelbar.
Ich habe dieses Gespräch mit der Studentin, die von einem Leben in Verzweiflung müde war, nie vergessen.
Die TelefonSeelsorge in Deutschland – 60 Jahre Telefon und 20 Jahre Internet
"Bevor Sie sich das Leben nehmen, rufen Sie mich an!" So stand es im Jahr 1953 in einer Kleinanzeige in einer Londoner Zeitung. Ein Pfarrer appellierte hier an die Leserinnen und Leser. Diese Idee, Verzweifelten mittels Telefon in akuten Notsituationen zu helfen, holte der evangelische Pfarrer, Arzt und Psychotherapeut Klaus Thomas aus England nach Deutschland. 1956 richtete er in Berlin die "Ärztliche Lebensmüdenbetreuung" ein. Bundesweit finden heute rund 1,8 Millionen Ratsuchende im Jahr über Festnetz, Handy, Email oder Chat Hilfe bei der TelefonSeelsorge der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland. Sie feiert in diesem Jahr ihren 60. Geburtstag. Im vergangenen Jahr wurde die TelefonSeelsorge im Internet 20 Jahre alt.
Rund 8.000 Ehrenamtliche und 188 Hauptamtliche in 105 nationalen Stellen sind rund um die Uhr für verzweifelte Menschen da, für alle, ganz unabhängig von Alter, Herkunft, Konfession oder Religion. Kostenlos und anonym. Die Themen sind vielfältig: Krankheit, Einsamkeit, psychische Erkrankungen, Suizidgedanken, Missbrauch und Gewalt, Angst vor Armut oder Verlust der Arbeit – im vergangenen Jahr auch Angst vor Terror.
Suizid spielt in vielen Anrufen eine Rolle. Rufen Jugendliche und junge Erwachsene bis 29 Jahre an, geht es in einem Drittel der Fälle um Suizid. Jedes fünfte Kind zwischen zehn und vierzehn Jahren spricht körperliche, seelische oder sexuelle Gewalterfahrungen an und äußert dabei Suizidgedanken.
Über das Internet melden sich auffällig viele Kinder und Jugendliche. Manche trauen sich nur hier, zu sagen, dass sie mit dem Gedanken spielen, sich umzubringen. Mobbing spielt eine Rolle oder der Verlust eines Haustiers. Da Kinder noch nicht die Erfahrung haben machen können, dass es nach einer Krise weitergehen kann, stehen sie schneller am Abgrund, verlieren den Halt auf dem Drahtseil des Lebens, meinen die Seelsorger.
Manchmal kommt jede Hilfe an ihre Grenzen
Eine Seelsorgerin erinnert sich, wie ihr einmal eine Frau gemailt hat. Sie hatte drei Suizidversuche hinter sich. Der vierte solle endgültig gelingen. Sie war lebensmüde. Die Seelsorgerin hatte zuerst versucht, sie davon abzubringen. In der Supervision merkte sie dann: Sie muss den Willen der Mailerin akzeptieren. In ihren Erinnerungen beschreibt die Seelsorgerin den weiteren Weg: „Wir haben uns voneinander verabschiedet. Sie wusste, dass ich für sie eine Kerze angezündet habe. Ihre letzten Worte an mich waren: `Danke dir für die Kerze, sie wird mir ein Licht sein auf meinem Weg.` Diese berührenden Abschiedsworte haben mir geholfen, den Mailkontakt innerlich abzuschließen.“
Die ausgebildeten ehrenamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorger in der TelefonSeelsorge oder an anderen Orten sind da. Sie haben die Hoffnung und eine Vision: „Wir können einen Weg finden. Zusammen. Du kannst deinen Lebensweg weitergehen. Nicht allein – mit anderen und Gottes Hilfe.“
Der Link zur TelefonSeelsorge: http://telefonseelsorge.de/