In der Mitte Europas können sich nur die ganz Alten noch an Zeiten erinnern, in denen keine Feste gefeiert wurden, in denen der Jubel auf Straßen und Plätzen erstorben, in der kollektive Freude in fast ganz Europa nur noch ein Gegenstand blasser Erinnerung war. Vor genau zweiundsiebzig Jahren ging diese Zeit zu Ende, 1945.
Was für ein Wunder, denke ich, dass aus dem deutschen Terrorstaat ein Rechtsstaat wurde, in dem Freiheit und Gerechtigkeit zu Hause sind und von dem alle Welt sieht, dass keine Gefahr mehr von ihm ausgeht! Und der deshalb wie ein Magnet wirkt für viele, die sich nach Recht und Frieden sehnen. Ob die Situation im demokratischen Europa Bestand hat, ist noch nicht ausgemacht.
Für Menschen an anderen Orten dieser Welt sieht das Leben ganz anders aus. Auch für die meisten Menschen, denen wir die Bibel, verdanken, war das ganz anders.
Siebzig Jahre lag Jerusalem in Trümmern, war das Land verwüstet. In diesen siebzig Jahren hatten Menschen ihre Heimat verlassen und mussten in der Fremde leben. Da war ihnen das Lachen und das Feiern längst vergangen – und auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Da war es wie ein Wunder, als der Prophet Jeremia, der wahrlich kein Optimist war, seinen Zeitgenossen Hoffnung machte, weil er weiter mit Gottes Möglichkeiten rechnete.
"Man wird wieder hören den Jubel der Freude und Wonne", wagt er zu prophezeien, "die Stimme des Bräutigams und der Braut und die Stimme derer, die da sagen: »Danket dem HERRN Zebaoth; denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich." (Jeremia 33,11)
Wer mit Gottes Möglichkeiten rechnet, stellt oft fest: die Sehnsucht nach dem, was noch nicht ist, ist kraftvoller als der Jubel über das, was schon geschafft ist. Die Erwartung entbindet mehr Leidenschaft als die Lust, das Erwartete zu genießen.
Unverdrossene Hoffnung ist wie Arznei. Ein Medikament gegen die Resignation, das auf die Füße stellt, das Beine macht. "Hintern hoch und Zähne auseinander!" heißt das kölsche Motto auf Hochdeutsch.
"Was wird uns die Zukunft bringen?", wurde einmal ein weiser Rabbi gefragt. "Die Zukunft", antwortete er, "ist wie der Kampf zweier wilder Tiere. Das eine Tier kämpft verbissen für Hass, Krieg und Verderben. Das andere Tier kämpft nicht weniger kraftvoll für Liebe, Frieden und Gerechtigkeit." "Und welches Tier wird den Kampf in der Zukunft gewinnen, Rabbi?" "Das Tier, das du heute fütterst."