Sendung zum Nachlesen
Juval, 35, jüdisch, Israeli, lebt seit ein paar Jahren in Berlin. Wenn er seine Familie in Tel Aviv besucht, muss er immer noch einmal rechtfertigen, warum er nach Berlin gezogen ist. Hier ist doch der Holocaust geplant und organisiert worden. Und zwei von seinen Urgroßeltern sind dem zum Opfer gefallen. Seine Großmutter hatte ihm beim Abschied einen Zettel in die Hand gedrückt, mit der alten Berliner Adresse ihrer Eltern.
Juval ist nicht religiös, aber seine Zuversicht, in Berlin als Jude seinen Platz zu finden, erinnert mich an den Glauben vieler Juden, einen Platz im "Land der Lebendigen" zu haben, wie es in der Bibel heißt. Komme, was da wolle! "Herr, du bist meine Zuversicht, mein Teil im Land der Lebendigen" (Ps 142,6), so beten Juden, selbst wenn sie im Land der Finsternis und des Todes leben müssen.
Juval lebte schon über ein Jahr in Berlin, als ihm der Zettel mit der Anschrift seiner Urgroßeltern wieder in die Hand fällt. Und er beschließt, sich am nächsten Wochenende auf den Weg zu machen. Mit der Adresse in seinem Smartphone dauert es keine Stunde, bis er in der Straße seiner Urgroßeltern steht. Aber Juval ist enttäuscht. Höchstens dreißig Jahre alt sind die Häuser dieser Straße. Er geht trotzdem weiter, bis zur Hausnummer 14.
"Ein Anflug von Sentimentalität überraschte mich", erzählt dieser nüchterne IT-Spezialist. "Ich malte mir aus, wie die Straße vor achtzig Jahren ausgesehen haben mag, wie meine Urgroßeltern hier ein- und ausgingen, bis sie das letzte Mal das Haus Nr. 14 verlassen haben. Und dann fiel mein Blick auf zwei kleine in der Sonne leuchtende Messingquadrate, die in den Gehweg eingelassen waren. Als ich mich herunter beugte", musste Juval gestehen, "verlor ich ein wenig die Fassung. Auf den Messingplatten waren die Namen meiner Urgroßmutter und meines Urgroßvaters eingraviert. Und: ermordet 1943 in Ausschwitz.
Lange hat meine Familie geschwiegen, als ich davon in Tel Aviv erzählte. Das ist für mich das neue Deutschland, habe ich gesagt, das seine Augen nicht verschließt vor seiner dunklen Vergangenheit. Darum kann ich es heute wagen, als Jude in Berlin zu leben. Ja, ich begegne auch Antisemitismus in Berlin. Wie überall auf der Welt. Aber eben auch Menschen, die sich dem beherzt entgegen stellen."
Es gilt das gesprochene Wort.