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Federding oder Kanalratte?
Ein Dichterinnen-Streit
07.08.2025 06:20

Es trennen sie zwei Jahrhunderte. Aber in ihren Gedichten streitet die eine Dichterin mit der anderen darüber: Was ist Hoffnung?

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Zwei amerikanische Dichterinnen. Aus zwei Jahrhunderten. Emily Dickinson, 19. Jahrhundert, und Caitlin Seida, 21. Jahrhundert. Beide haben ein Gedicht über die Hoffnung geschrieben. Die Texte könnten unterschiedlicher nicht sein.   

Für Emily ist die Hoffnung "ein Federding, -/ das in der Seele hockt – /und Lieder ohne Worte singt… Im Sturm - klingt es am lieblichsten- / Und der muss heftig wehn - / Den kleinen Vogel zu beschämen/ So viele hielt er warm. Ich hörte ihm im Eisland zu - / und auf dem fernsten Meer- / Doch wollt er selbst im Notfall, nie / Ein Krümelchen – von mir."

Ein zäher zarter Vogel, der nicht einmal ein Krümelchen annimmt. Die Hoffnung ist immer da, im Eisland des Lebens und auf einsamer See. Er singt und verlässt mich nicht. Und hält mich warm und viele andere auch.

Mich hat dieses Bild sofort angesprochen. Das Zarte und Zähe zugleich. Und dass in mir ein Vogel singt, mir etwas zuspielt, wenn ich in Traurigkeit versinke. Eine Melodie, einen neuen Gedanken. Das stimmt schon – so erlebe ich es oft, dass Hoffnung zu mir kommt, in mir auflebt.

Caitlin Seida widerspricht. Statt Federn zu haben und ein Lied, kommt ihre Hoffnung aus dem Dreck der Straße.

"Hoffnung ist nicht das Federding, / das nach Hause kommt zum Schlafen, / wenn du es am meisten brauchst./ Hoffnung ist ein hässliches Ding / mit Zähnen und Klauen und / Flickhaftem Fell, das so manche Scheiße gesehen hat. / Es ist das, was in Abfallbergen gedeiht / und überlebt in den hässlichsten Teilen unserer Welt. / Imstande einen Weg weiter zu finden, wenn sonst nichts mehr auch nur einen Weg hinein finden kann. …./"

Caitlin Seda spricht in ihrem Gedicht Emily Dickinson direkt an: "Hoffnung ist nicht ein graziler schöner Vogel, / Emily. / Es ist eine kleine Kanalratte, / die Pestizide schnupft, als ob sie Linien von Kokain wären, und dennoch / rechtzeitig bei der Arbeit erscheint am nächsten Tag. / Ohne mitgenommen auszusehen."

Die Kanalratte Hoffnung frisst das Gift auf, das wir auf die Felder schütten, das im Grundwasser landet. Sie ist hässlich wie die Gegenden, in denen sie sich aufhält. Unansehnlich, dreckig, stachelig. Und doch macht sie ihre Arbeit und findet Auswege aus dem Dreck.

Ich will mich gar nicht entscheiden, wer recht hat. Emily oder Caitlin. Ich glaube, ich brauche beides: den zähen, zarten Vogel, der mir ein Lied singt. Und ich brauche die Kanalratte Hoffnung, die sich hineinbegibt in den Misthaufen und in den Untergrund, wo wir nicht gerne hinschauen.

Es gilt das gesprochene Wort.

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