Unsere Autorin will nicht die Augen und Ohren verschließen vor den Schreckensnachrichten. Aber sie sehnt sich nach der Ruhe und Kraft, die dem Schrecklichen entgegenwirkt.
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Lullaby, Berceuse, Cântec de leagăn. In jeder Sprache dieser Welt gibt es Wiegenlieder. Ihr Zauber berührt ein Leben lang. Da ist eine Stille trotz Gesang. Stille und Bewegung. Das Kind liegt in den Armen. Es geht hin und her und hin und her. Und gerade dadurch kommt es zur Ruhe.
Ich habe es sehr geliebt, meinen Kindern Wiegenliedern zu singen. Es sind die innigsten Momente. Meine Stimme kennt das Kind noch aus dem Mutterbauch. Und auch das Hin und Her von den Bewegungen der Mutter. Getragen werden. Geborgenheit. Umgrenzung.
Dann wird das Kind weiter gehalten und bewegt in einem schlichten Lied, sobald es in die große Welt gekommen ist. Ich hatte oft den Eindruck, das Kind in meinen Armen wird leichter, weil es sich so sehr entspannt und ins Vertrauen fallen lässt.
Der Germanist Karl Eibl hat wissen wollen, warum der Mensch seit frühesten Zeiten, lange bevor es geschriebene Texte, Romane, Erzählungen gab, rhythmische Verse, Poesie und Musik verfasst hat. War das evolutionsbiologisch von Vorteil für den Menschen?
Karl Eibls Fazit: Ja. Rhythmus und Worte, die mehr sind als Information, die eine Seelensprache sprechen, helfen, sich in der rätselhaften, zum Fürchten und Staunen großen Welt zurecht zu finden. Das bringt die aufgewühlte Seele zur Ruhe. Hilft, Katastrophen zu bewältigen. Schweres zu überstehen. Und das ist evolutionär von Vorteil. Vielleicht gehören die Wiegenlieder da auch dazu. Auch sie haben einen klaren Rhythmus, und man kann sie beliebig oft wiederholen, bis das Kind schläft.
In diesem Jahr sehne ich mich als erwachsene Frau nach dem Trost, den ein Wiegenlied einem Kind schenken kann. Auch wenn wir nicht in Kiew und Tel Aviv vor Bombenhagel in den Schutzkeller laufen müssen. Auch wenn wir nicht hungern in Gaza und durch zerstörte Straßen laufen müssen. Auch wenn wir nicht wie so viele Familien in Israel immer noch um ihre Liebsten bangen, die in Geiselhaft sitzen.
Selbst aus der Ferne ist es herzzerreißend, zum Himmel schreiend. Laut ist die Welt geworden, zu viel Gewalt, zu viel Menschenverachtung. Ich möchte nicht die Augen verschließen vor alledem oder mir die Ohren zuhalten. Ich brauche Worte, die mich halten und wiegen und trösten.
"Wandelt als Kinder des Lichts." Diese Worte aus der Bibel klingen für mich wie ein Wiegenlied: "Wandelt als Kinder des Lichts. Die Frucht des Lichts ist lauter Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit." Das könnte was sein - ein Wiegenlied für Erwachsene. Für die Nacht und für den Tag.
Es gilt das gesprochene Wort.
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