epd-bild/Jens Schulze
Die Macht der Verletzlichkeit
Gedanken zur Woche von Pastor Oliver Vorwald
27.10.2023 06:35
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Noch versperrt ein Baugerüst den Blick. Aber das wird am Dienstag verschwunden sein. Denn am 31. Oktober soll das neue Reformationsfenster in der Marktkirche in Hannover für Besucherinnen und Besucher zugänglich sein. Es ist ein langer Weg bis dorthin gewesen. Beinahe bis zuletzt mit Kontroversen. Und schon während seiner Entstehung wurde um das Reformationsfenster heftig gestritten. Aus verschiedenen Gründen. Da ging es um Farb- und Formensprache, Fleischfliegen als Signatur des Bösen, Verletzlichkeit.

Entworfen hat das 13 Meter hohe Kirchenfenster Markus Lüpertz. Er gilt als einer der bekanntesten deutschen Künstler der Gegenwart. Die Idee hatte Altbundeskanzler Gerhard Schröder. Er hat Spenden für das 150.000 Euro teure Kunstwerk gesammelt. Aber als Gerhard Schröder sich nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine nicht von seinem Freund Putin distanzierte, hat die Kirchengemeinde den Einbau des Fensters zunächst gestoppt. Sie widmete das gesammelte Geld um und gab es an die Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine. Für das Kirchenfenster haben sich dann neue Spender gefunden.

Die Marktkirche Hannover ist ein gotischer, mehrschiffiger Hallenbau, ihr Turm ein Wahrzeichen der Stadt, weithin sichtbar. Während des Zweiten Weltkriegs ist sie schwer beschädigt worden. In den Jahren 1946 bis 1952 dann wiedererrichtet – in einer klaren Sachlichkeit. Der Innenraum schlicht gehalten, kein Putz, der Backstein überall sichtbar. Da provozieren die geballten Farben des neuen Kirchenfensters, sagen manche. Neben Motiven mit Bezug zur Reformation – wie Tintenfass und Federkiel – sind da die fünf übergroßen Fleischfliegen. Sie umschwirren eine Figur, die auf Martin Luther verweisen soll.

Während der Einbauphase des Reformationsfensters habe ich die Gelegenheit bekommen, das Baugerüst hinaufzusteigen. Ich habe mir alles aus der Nähe angeschaut. So fein gearbeitet, verschiedene Glassorten, leuchtende Farben. Im unteren Drittel des Fensters findet sich Martin Luther als eine schlohweiße Gestalt. Die Augen weit aufgerissenen. Er hat die Hände erhoben, als müsse er etwas abwehren. Um ihn herum Symbole der Angst, des Bösen, der Verletzlichkeit: die besagten Fliegen, Fratzen, ein Gerippe.

Hier steht mir der Reformator in seinen Ängsten gegenüber. Aufgewühlt, verzweifelt, verletzlich. Nicht so kraftvoll-heroisch, wie er sonst oft dargestellt wird. Luther hatte beide Seiten. Die energische, mutige, glaubensstarke. Aber er kannte auch Phasen, in denen er kleinlaut und kleinmütig war.

So zeigt ihn Markus Lüpertz auf dem neuen Reformationsfenster. Dieser Martin Luther kommt mir nahe. Verzweiflung, Verletzlichkeit. Das gehört zum Menschsein. Ich kenne den Reflex, diese Verletzlichkeit zu verdrängen, zu vertuschen, manchmal darüber hinwegzulachen oder sie hinter vermeintlich starken Vorbildern zu verstecken.

Aber sie ist trotzdem da, die Verletzlichkeit. Und es gibt zur Zeit genügend Zumutungen und Zerreißproben, die übergroß wirken – ja beängstigend – wie die Fliegen auf dem neuen Reformationsfenster in Hannover. Die schlohweiße Luther-Figur und ihre erhobenen Hände. Das muss keine Abwehrhaltung sein. Es könnte auch eine Segens-Geste sein.

Mir kommt es vor, als würde sie sagen: "Mensch, deine Verletzlichkeit ist auch eine Stärke. Wenn Menschen miteinander teilen, was ihnen zu schaffen macht, kommen sie einander näher. Sie werden offen für das, was die anderen bewegt. Für ihren Kummer, aber auch für ihre Freude." Denn Martin Luther steht nicht nur dafür, wie man Ängste abwehrt, sondern auch dafür, wie man sie überwindet und Hoffnung gewinnt.

Der Maler und Bildhauer Markus Lüpertz hat über seine Arbeit gesagt: "Die Betrachter sollen die Erhabenheit eines Glasfensters empfinden können und dass hinter diesem strahlenden Licht die Engel und dahinter vielleicht Gott wohnt."

Es gilt das gesprochene Wort.