„Der Esel schämte sich...“

„Der Esel schämte sich...“
Begegnungen am Wegesrand
09.04.2017 - 08:35
10.04.2017
Pfarrer Günter Ruddat

Heute ist was los. Menschen strömen in die Stadt. Ein großes Fest, Erinnerung an den Tag der Befreiung aus aller Sklaverei. Ganz Jerusalem ist in Aufregung: Und mehr noch, heute: Wie ein Lauffeuer hat es sich verbreitet. Da kommt einer, von dem Unglaubliches erzählt wird. Wo er ist, sehen und hören die Menschen ganz neu, gehen aufeinander zu und teilen, was sie zum Leben brauchen, Krankheiten sind vergessen und Tote stehen auf. Dieser Mensch erzählt auf ganz andere Weise von Gott als die, die in Sachen Religion das Sagen haben.

 

Das wäre es doch, wenn endlich einer käme, der die trostlosen Verhältnisse auf den Kopf stellt, nicht nur an den eigenen Vorteil denkt, sondern für Gerechtigkeit und Frieden eintritt – für alle. So hat es vor Zeiten der Prophet Sacharja gesehen: Den Friedenskönig, der auf einem Esel reitet. (Sach 9,9f)

 

Doch jede und jeder auf der Straße hat etwas anderes gehört. Die einen erwarten den Messias, den Erlöser,

die anderen wittern einen religiösen Hochstapler oder warnen vor einem Revolutionär, wieder andere halten sich zurück, verharren im Abseits.

 

Wer ist es, der da kommt?

 

Die Menschen stehen am Straßenrand, an der Straße, die vom Ölberg hinein nach Jerusalem führt. Hier entlang soll er kommen, der Messias, der Erlöser, der König, den Gott versprochen hat.

 

Es kommt Bewegung in die Menge, eine bunte Gruppe nähert sich, Frauen und Männern scharen sich um einen Mann, der auf einem Esel reitet, auf einem kleinen grauen Esel, nicht etwa auf einem großen prächtigen Pferd.

 

Das können alle sehen. Er ist anders als die Mächtigen, die Herren, die ihre Macht demonstrieren, wo sie nur können, und vor denen die Menschen in die Knie gehen.

 

Ein Raunen geht durch die Menge: Das muss er sein, der Messias, der König, der Erlöser.

 

Die Menschen jubeln dem Mann auf dem Esel zu. Sie legen ihre Kleider, große Tücher in den Staub der Straße, so als wollten sie einen roten Teppich ausbreiten, zum Empfang für diesen Mann aus Galiläa, Jesus aus Nazareth. Sie schmücken seinen Weg mit frischem Grün, mit Blumen und Blüten, sie brechen Zweige von den Bäumen und Palmen am Rande der Straße.

 

 

Hosianna! Gelobt sei, der da kommt! Er kommt im Namen des Herrn. So wie der König David vor langer Zeit. Gelobt sei Gott!

 

Von diesem Einzug in Jerusalem erzählt die Bibel. Später geben die Christen diesem Tag einen besonderen Namen, Palmsonntag, sieben Tage vor Ostern. Heute beginnt die Karwoche, die Heilige Woche. Mit dieser Geschichte beginnt der Weg ans Kreuz, nach Golgatha. Zwischen Hosianna und Kreuzige spannt sich der Bogen, zwischen Hoffnung auf Frieden und Freiheit und Angst vor endlosem Elend und endgültiger Unterdrückung.

 

 

Ein Esel begleitet Jesus durch das Leben. Zuerst Ochs und Esel im Stall von Bethlehem. Wenig später der Esel auf der Flucht von Maria und Josef mit dem Jesuskind.

 

Auch in dieser letzten Woche spielt ein Esel eine tragende Rolle:

 

Jesus also auf einem Esel, einfach und schlicht. Auf so einem Tier reitet keiner, der in den Krieg ziehen oder groß repräsentieren will, auf so einem Lasttier reitet einer, der sich im Alltag an die Arbeit macht… einer, der die Last des Alltags trägt, wird getragen von einem Arbeitstier.

 

Später macht das Jesus selbst zum Gespött, zum Esel. Schon in der Zeit der frühen Christenheit zeigt eine Karikatur aus dem alten Rom Jesus am Kreuz mit einem Eselskopf. Muss das nicht ein dummer Esel sein, der sich König nennt und auf Gewalt verzichtet, der sich Gott nennt und am Kreuz endet, der freiwillig Lasten trägt und sie nicht einfach anderen auflädt.

 

In der Geschichte des Glaubens hat dieses Bild angeregt: Ein Esel, der Lasten und Spott erträgt, der die Botschaft des Christus in den Alltag bringt. Bis heute, bis zu mir, wie es die Theologin Dorothee Sölle formuliert:

 

 „Laß mich Dein Esel sein, Christus. …

Christus kommt nicht anders als durch solche Esel wie dich und mich. …

Wenn wir glauben, daß Christus einreiten kann, heute,

 daß Leute ihn verstehen, daß er sich vermitteln lässt in unser Leben, …

dann nur durch uns“.

(Dorothee Sölle, Laß mich Dein Esel sein, Christus. In: dies., Das Fenster der Verwundbarkeit, Stuttgart 1987, S. 302-304, Zitat S. 303)

 

 

Noch jubeln die Menschen dem Mann auf dem Esel zu. Sie ahnen nicht, welchen Weg er vor sich hat. Sein Weg geht weiter. Die Bibel erzählt.

 

Er geht in den Tempel, das Haus Gottes. Alles dreht sich da ums Kaufen und Verkaufen. Alle denken nur ans Geld und gute Geschäfte. Niemand denkt an Gott. Jesus wird zornig. Er geht dazwischen. Er treibt die Händler aus dem Tempel. Das verdirbt das Geschäft, nicht nur das mit dem Glauben. Solche Aktionen sind gefährlich für die Geschäftemacher.

 

Da jubelt schon keiner mehr. Die Menschen verstummen. So hatten sie sich diesen merkwürdigen König, den Messias nicht vorgestellt.

 

Und Jesus geht weiter. Er setzt sich mit seinen Freunden zusammen, so wie er sich immer mit Menschen zusammengesetzt hat, mit denen keiner etwas zu tun haben wollte. Jesus wäscht seinen Freunden die Füße. Er zeigt ihnen, wie sie sich füreinander einsetzen sollen. Das verstehen sie erst nicht. Solche Aktionen sind peinlich für die Wohltäter.

 

Am Abend isst und trinkt Jesus mit seinen Freunden. Er nimmt das Brot und segnet es. Er bricht das Brot und teilt es mit allen – auch mit Judas, der ihn verraten wird. Er nimmt den Becher mit Wein. Er reicht ihn weiter – und alle trinken daraus. Jesus dankt für diese Gaben. In Brot und Wein sind sie miteinander verbunden – mit Jesus und untereinander, auch mit dem Verräter. Solche Aktionen sind untragbar für Freunde.

 

Und Jesus geht weiter. Am späten Abend mit seinen Freunden zum Ölberg, Gethsemane, heißt der Ort. Jesus will dort beten. Er ist verzweifelt. Todesangst ergreift ihn. Er will nicht allein sein mit seiner Angst. Drei Freunde begleiten ihn. Er bittet sie, mit ihm zu beten: Bleibt hier und wacht mit mir! Jesus ringt mit Gott um seinen Weg und gibt sich doch ganz in seine Hände. Die Freunde sind todmüde. Sie schlafen ein. Sie wollen nicht wahrhaben, was kommt, sie wollen lieber im Schlaf verdrängen und vergessen. Solches Beten ist unmöglich mit Menschenkraft.

 

 

Jesu Weg geht weiter. Mitten in der Nacht: Soldaten kommen, an ihrer Seite Judas, der verzweifelte Verräter. Er geht auf Jesus zu, der seine Hoffnung war, und gibt ihm einen Kuss. Das ist das Zeichen. Jesus wird festgenommen und abgeführt. Die Freunde lassen ihn im Stich. Solche Last ist untragbar für die Ängstlichen.

 

Am nächsten Morgen, Jesus steht gefesselt vor dem römischen Richter, Pontius Pilatus. Der fragt: Bist du der König der Juden? Und Jesus sagt: Ja. Er wird beschuldigt. Aber er verteidigt sich nicht. Das Volk aber ist angestachelt und aufgehetzt, Jesus soll zum Tod verurteilt werden. Und so schreien erst einzelne, dann werden es immer mehr: Kreuzige ihn! Kreuzige ihn! Und solches, am Ende, scheint dann einfach für die, die ihre Fahne in den Wind hängen.

 

Die Frage nach dem, der da kommt – ist zur Frage nach mir selbst geworden. Zwischen Hosianna und Kreuzige bin ich es, der am Wegesrand steht.

 

Doch das Ende der Geschichte ist noch nicht erreicht. Sie erinnert an die Zukunft, damit es anders anfängt mit mir selbst. Bei Rudolf Otto Wiemer (1905-1998) ist es der Esel, der es jetzt anders anfinge:

 

Der Esel, so hörte ich, schämt sich, dass er ihn trug.

Er schämt sich des Einzugs in Jerusalem,

weil auf das Hosianna! das Kreuzige! folgte.

Also sei, der durch das Hosianna ihn trug,

sagt er, zugleich des Kreuzige Anfang.

 

O, ist nicht ein Esel der Esel, da er so

kleiner Ursache wegen sich schämt, und

ich, der Mensch, der schreie, der beides

schrie: Hosianna! schrie und Kreuzige!

schäme mich nicht?

(Rudolf Otto Wiemer, Der Esel, in: ders., Ernstfall. Gedichte. Steinkopf, Stuttgart 1963, S. 69.

 

 

Dieser Esel macht mir Gedanken:

 

Ich frage mich, wo ich den Mund aufmache und wofür, nicht nur wenn ich nach meiner Haltung zu Jesus gefragt bin.

 

Ich frage mich, wo ich den Mund aufmache und wofür, wenn ich von Menschen höre, mit denen Jesus sein Schicksal teilt. Und erschrecke immer wieder aufs Neue über das, was menschenfeindlich in uns aufbricht.

 

Und das ist längst nicht erledigt, nicht bloß ein Ereignis am Rand der Weltgeschichte vor 2000 Jahren: „Spuren der Passion“ haben wir in unserem Stadtteil – mitten im Ruhrgebiet – vor Ort gesucht – mitten unter uns. Haben Gottesdienst gefeiert – nicht in der Kirche, sondern da – wo die Häuser enden, weit draußen auf den „Sauren Wiesen“. Auf dem Gelände eines ehemaligen Lagers für Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs. Da, wo heute alte und junge Menschen spazieren gehen, Tennis spielen, da haben wir der verschleppten und gefangenen Menschen gedacht, die vor kaum mehr als siebzig Jahren hier menschenverachtend untergebracht waren. Sie wurden versklavt, zur Arbeit in den Fabriken der Rüstungsindustrie unserer Stadt, verheizt für den Krieg. Alle damals! Die Menschen haben davon gewusst und zugeschaut – und bis heute wollen viele Zeitgenossen diese Geschichte nicht wahrhaben.

 

Das Ende der Geschichte ist noch nicht erreicht. Junge Leute spannen den Bogen zu der neu erbauten Flüchtlingsunterkunft, ganz in der Nähe, mit hohen Zäunen und einem strengen Sicherheitsdienst, der eher den Eindruck erweckt, Gefangene bewachen zu sollen, als Menschen, die in der Freiheit angekommen sind…

 

Ein Esel, wer sich seiner Geschichte schämt. Mag sein. Damit es anders anfängt:

 

 

„Laß mich Dein Esel sein, Christus. …

Christus kommt nicht anders als durch solche Esel wie dich und mich. …

Wenn wir glauben, daß Christus einreiten kann, heute,

daß Leute ihn verstehen, daß er sich vermitteln lässt in unser Leben, …

dann nur durch uns“.

(Dorothee Sölle, Laß mich Dein Esel sein, Christus.

In: dies., Das Fenster der Verwundbarkeit, Stuttgart 1987, S. 302-304, Zitat S. 303)

 

Die wunden Punkte, vor Ort und auch in meinem Leben, die will ich nicht verdrängen und vergessen. Sondern wachen und beten, um Mut, vor Gott und mit Menschen in aller Öffentlichkeit innezuhalten. Beten um Menschen- und um Gotteskraft. Um zu tragen und getragen zu werden. Damit es anders weitergeht. Auf dem Kreuzweg, hin zu Ostern und zu dem Leben, in das Gott uns Menschen ruft.

10.04.2017
Pfarrer Günter Ruddat