Zwei Schritte vor, einer zurück

Zwei Schritte vor, einer zurück
Vom Wandel des (Un-)Glaubens
05.01.2020 - 08:35
12.12.2019
Klaus Priesmeier
Über die Sendung:

Glaube und Unglaube. Das sind keine Gegensätze in dem Sinn: Da sind die, die glauben. Und dort die, die nicht glauben. Glaube und Unglaube ist eine Grenze, die sich mitten durch ein- und denselben Menschen zieht. „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ (Markus 9, 24) ist die Jahreslosung für 2020.

 
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„Zwei Schritte vor, einer zurück“: Wer das so sagt, der beschreibt Normalität. Es geht nicht immer nur voran. So ist das. Auch im neuen Jahr. Und auch mit guten Vorsätzen. Mal gelingen mir zwei Schritte vor, mal nicht. Dann geht es eben einen zurück. Und: ist doch gut, wenn es insgesamt voran geht. Zwei Schritte vor, einer zurück – da bleibt einer nach vorn. Das ist doch was!

In einen Rausch fällt man dabei freilich nicht. Weder in einen der Geschwindigkeit – noch in einen des Glücks. So ist das ein sehr alltagstauglicher Spruch. Zwei Schritte vor – und einer zurück.

 

Nicht nur zwei Schritte vor, viele Schritte hoch bestieg einst Martin Luther eine Pilgertreppe in Rom. Voller Glauben! Aber was heißt bestieg – es war wohl mehr ein Rutschen auf den Knien. Und auf jeder Stufe innehalten und ein Vaterunser gebetet! Ein Vaterunser für den Großvater, um ihn zu befreien aus dem Fegefeuer. Und noch eine Stufe und noch ein Gebet. Damit es dem Opa im Fegefeuer Erleichterung verschafft.

Oben angekommen, so erzählt Luther Jahre später, oben auf der Treppe habe er sich gefragt: „Ob es wohl wahr ist?“

 

 

Äußerlich waren das viele Schritte vor und hoch, für Luther in Rom – dann aber innerlich der Schritt zurück: „Ob es wohl wahr ist?“

 

Nach Luthers eigenem, damaligem Verständnis vollbrachte er ein Werk des Glaubens. Erwarb einen Verdienst, nicht für sich selbst, für seinen Großvater sollte der zählen. Hoch zu achten und – eben: anzurechnen. Doch auf einmal diese Stimme, vielleicht leise, doch deutlich: „Ob es wohl wahr ist?“ Die Stimme des Zweifels, das Flüstern der Skepsis. Oder eben – der Unglaube. Er droht das gute Werk umzuwandeln in nutzloses Tun. Was, wenn das alles gar nicht stimmt?

 

 

Zwei Schritte vor, einer zurück. Bleibt also ein Schritt voran. Was ist bei Luther der Schritt voran? Man wird das Erlebnis nicht überfrachten dürfen. Eines aber zeigt sich auch hier ganz deutlich: Der Glaube kommt mit dem Unglauben daher. Wo der eine auftaucht, ist der andere nicht weit, und sei auch nur sein leises Gemurmel zu vernehmen. Doch an Widerständen wächst die Kraft und an Widersprüchen der Geist. Was einfach nur schnell und gewaltig in die Höhe schießt, hat oft keinen Bestand. Es knickt weg. Der eine Schritt zurück ist oft bitter nötig – also wichtig und hilfreich, kommt er mir im Moment auch bitter vor.

 

„Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ So ruft es ein verzweifelter Vater. Das Markus-Evangelium erzählt von ihm. In bitterster Lage befindet sich der Mann; seinen kranken Sohn bringt er zu Jesus. So, wie er ihn schon zu manchen Ärzten und Heilern gebracht haben wird. Immer mit der Hoffnung: Jetzt wird alles gut! Doch niemals wurde dieser Traum Wirklichkeit. Der Sohn bekam weiter seine Anfälle, schwebt in Lebensgefahr. Keinen Schritt mehr vor, und immer wieder so viele zurück. Sein Lebensgefühl: Du bist allein, du bist ohnmächtig, du bist am Ende. Und es gibt keine Hilfe.

 

 

Zwei Schritte vor und nur einer zurück, das wäre schon viel, ganz viel! Ganz viel für den, der fühlt, nur noch zurück zu bleiben hinter allem, was das Leben bedeuten könnte. Wer so fühlt, der resigniert. Das zeigt sich in den Worten des Vaters zu Jesus: „Wenn du etwas kannst, so hilf uns!“ Hatte er es denn nicht oft genug erlebt, wie all die anderen es nicht konnten? Da will er doch die Latte nicht zu hoch legen. Sie fällt dann umso tiefer. Und irgendwie ja auch er selber. Er selber fällt mit. Wieder mal: ein Schritt vor und zwei zurück. Sollte er sich davor nicht schützen?

 

Jesus reagiert ungehalten. „Du sagst, wenn du kannst. Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Der Vater erschrickt. Hat er den möglichen Heiler verärgert? Der aber nimmt ihn mit seinen Worten an die Hand. Und führt ihn zwei Schritte vor in eine neue Dimension. Weniger Skepsis und mehr Vertrauen. Ein unbekanntes Terrain für den Vater. Alles soll möglich werden, wo ihm doch nichts mehr möglich scheint, so allein und hilflos und ohnmächtig, wie er sich fühlt. Einen Weg aus der Ausweglosigkeit – genau das will der Vater doch, für seinen kranken Sohn und für sich. „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“

Jesus, der ihn mit dieser Ermutigung erschreckt, der scheint so eine Zuversicht zu haben. Er scheint diese Zuversicht zu verkörpern. Und an ihn kann er sich halten. Er merkt: Jesus steht für mich, und er steht für meinen kranken Sohn.

Sein eigener Glaube aber ist nicht so. In seinem Leben geht es immer nur die Schritte zurück. Doch Jesus sagt ihm: Jetzt gehst du zwei Schritte vor und keinen zurück! Unvorstellbar, zugleich genau das, was der Vater so sehr ersehnt, für sich, für seinen Sohn...

 

 

„Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Für den Mann stoßen Verheißung und Erfahrung aufeinander. Sein Schrei bringt die Wende. In der Sehnsucht nach Glauben und Vertrauen und Hoffen geht dieser Mann mitten durch seinen Unglauben. Und wagt doch den Glauben, hofft und vertraut.

 

So ein Schrei ist kein Zufall. Kein sicherer Glaube zeigt sich in ihm, ein gewagter Glaube ist es, einer, in dem dieser Mann das Geschick seines Sohnes und sich selbst riskiert. Er weiß nicht, was wird. Und seine Skepsis ist nicht verschwunden. Immer wieder all die Schritte zurück. Das Gefühl: wir sind allein und verlassen und helfen kann ja doch niemand… das sitzt Vater und Sohn in den Knochen. Das lässt sich nicht einfach wegmachen, das sitzt tief. Das setzt Scheuklappen gegen die Hoffnung auf, das macht fast blind für das, was vielleicht doch geht und werden könnte. Und wieder würden sie nur die Schritte zurück machen – wäre da nicht der, der sagt: Jetzt gehst du zwei Schritte vor und keinen zurück! Die ganze Spannung, die da in ihm ist, schreit der Mann ihm in die Ohren: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Und dann lässt er sich ziehen und bewegen…

 

 

Situationen, in denen Menschen so existenziell ihren Glauben bekennen, die lassen sich nicht konstruieren und künstlich herbeiführen. Wie hier im Markusevangelium ergeben sie sich. Wie hier lassen sie Menschen zwei Schritte vortreten. Und so bewegen sie sich. Nicht auf einer Treppe nach oben – wie damals Luther, um Erleichterung in der Hölle zu erwirken. Sondern Schritte mitten ins Leben. Solche Menschen müssen sich fühlen, als ob sie in den Himmel eintreten. Sie spüren: ich bin nicht nur mir selber überlassen. Ich bin nicht allein, nicht ohnmächtig, nicht am Ende. Und es gibt Hilfe.

 

Auch wenn der eine Schritt zurück mit Sicherheit kommt. Der Alltag bringt ihn mit, das geht jedem so, der in der Welt lebt, in der Welt, so wie sie nun mal ist. Diese Erfahrung bleibt. Doch der Himmel steht offen. Den Rückschritten bin ich nicht überlassen: Ich gehe ins Leben. Jesus ist der, der für mich steht. Ihm kann ich mich überlassen, ihm kann ich mich anvertrauen, mit ihm mache ich – trotz aller Rückschritte – Schritte ins Leben. Der Vater im Markusevangelium, ich selbst bin ein Mensch, der glaubt – in und durch allen Unglauben hindurch.

 

Glaube und Unglaube sind also keine Gegensätze in dem Sinn, dass man sie auf Menschen verteilt. Da sind die, die glauben. Und dort die, die nicht glauben. Das ist vielmehr eine Grenze, die zieht sich mitten durch ein- und denselben Menschen hindurch. In ein- und demselben Schrei bekennt der Vater Glaube wie Unglaube. Glaube und Unglaube sind eine Gemengelage in mir selber. Sie sind nicht strikte Gegensätze auf sachlicher Ebene – in mir lebendigem Menschen bilden sie eine Polarität, setzen mich unter Spannung. Und in der bleibe ich, solange ich in dieser Welt bin. Und brauche immer wieder den, der mir durch meinen eigenen Unglauben hindurch seinen Glauben zuspielt. Ich glaube, hilf meinem Unglauben. „Zwei Schritt vor, einer zurück“. Und alles liegt daran, die zwei Schritte vor zu wagen, sie zu tun.

 

 

Dieser Geschichte von dem Vater und seinem Sohn, der geht im Markusevangelium eine andere Vater-Sohn-Geschichte direkt voraus. Da geht Jesus mit dreien seiner Jünger auf einen hohen Berg. Und Jesu Kleider werden hell und sehr weiß, Elia und Mose erscheinen und reden mit ihm, und eine Stimme aus einer Wolke spricht: „Das ist mein lieber Sohn, den sollt ihr hören.“ Und diese beiden Geschichten, sie hängen ineinander. In der Gottesstimme und in der Verbindung Jesu mit der himmlischen Welt klingt diese andere Vater-Sohn-Geschichte an. Sie ist eine Geschichte zwischen dem Menschen Jesus und seinem himmlischen Vater. Und in dieser Geschichte erklingt die Stimme, die gehört werden will. Der irdische Vater in der folgenden Geschichte, er vertraut dieser Stimme. Und sein verwundetes Herz wird heil und sein Sohn wird frei von der Last, die sein Leben zu verderben drohte.

 

 

Der himmlische Vater sagt: „Das ist mein lieber Sohn, den sollt ihr hören.“ Der irdische Vater schreit: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Beides „spielt“ zusammen. Wie, das erkennt man in dem Bild Raffaels von der „Transfiguratio Christi“. Das ist ein zweigeteiltes Bild – oben die Szene auf dem Berg, unten die, in die Jesus und die drei Jünger eintauchen, am Ende des Weges bergab. Da hält der verzweifelte Vater seinen kranken Sohn. Und zwischen Sohn und Sohn, zwischen Jesus oben und dem von seiner Krankheit besessenen Sohn unten, gibt es eine Verbindung. Eine Korrespondenz. So wie der Junge jetzt in der Hand der Krankheit ist, so gibt sich Jesus in die Hände der Menschen. Bis ans Kreuz. Er ist der, der für uns Menschen steht. Der sogar für meinen Unglauben steht. Und der mich wieder neu verwickelt in den Glauben, den Gott, der Vater, bereit hält. Mitten durch allen Unglauben hindurch.

 

Der Schrei des Vaters, hilf, und der Schrei, der vor der Heilung aus dem Jungen fährt, diese Schreie gehen ein in den Schrei, den Jesus schreit am Kreuz. So sehr steht er für die Menschen seines himmlischen Vaters. Und er steht für sie ein. Spielt ihnen Glauben zu inmitten allen Unglaubens.

 

„Ich glaube, hilf meinem Unglauben“: das ist nicht nur die Jahreslosung für 2020. Das ist nicht nur ein Ruf für jeden, der Glauben und Hoffnung sucht. Das ist der Wendepunkt nicht nur in dieser biblischen Geschichte. Mir wird er zum Mittelpunkt, der mich hält bei Gott und den Menschen zugleich. Und ich ahne zwei Schritte vor das himmlische Licht schon mitten auf Erden. Und denke, beim Stolpern einen Schritt zurück, – nach vorn.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. MDXIX, Zurich Chamber Orchestra, feat. Daniel Hope, Larissa Bretscher, Zwingli - Original Motion Picture Soundtrack
  2. Ad Bellum Et Mortem, Zurich Chamber Orchestra, feat. Daniel Hope, Larissa Bretscher, Zwingli - Original Motion Picture Soundtrack
  3. Tempus Fugit, Zurich Chamber Orchestra, feat. Daniel Hope, Larissa Bretscher, Zwingli - Original Motion Picture Soundtrack
  4. Liberatio, Zurich Chamber Orchestra, feat. Daniel Hope, Larissa Bretscher, Zwingli - Original Motion Picture Soundtrack
  5. Lux, Zurich Chamber Orchestra, feat. Daniel Hope, Larissa Bretscher, Zwingli - Original Motion Picture Soundtrack
  6. Levitas, Zurich Chamber Orchestra, feat. Daniel Hope, Larissa Bretscher, Zwingli - Original Motion Picture Soundtrack
12.12.2019
Klaus Priesmeier