„Der Himmel geht über allen auf“

„Der Himmel geht über allen auf“
Singen auf Evangelisch
28.05.2017 - 07:05
29.05.2017
Günter Ruddat
Über die Sendung

Heute (Am 28. Mai) endet der diesjährige Deutsche Evangelische Kirchentag in Berlin mit einem festlichen Sonntag auf den Elbwiesen in Wittenberg – und das im Zeichen des Reformationsjubiläums 2017. Während des Festgottesdienstes und während des anschließenden Reformationspicknicks wird die protestantische Tradition des Singens seit 500 Jahren lebendig. Günter Ruddat erinnert aus diesem Anlass an die spezielle Bedeutung der neuen geistlichen Lieder, die durch die Kirchentage seit mehr als 60 Jahren das Singen in den Gemeinden geprägt haben.

Heute morgen in Berlin, da erinnere ich mich an meinen ersten Kirchentag 1961 – kurz vor dem Mauerbau.

Gerade frisch konfirmiert war ich als evangelischer Pfadfinder dabei, wohl einer der jüngsten unter den vielen Helferinnen und Helfern.

 

Zum Abschluss der Gottesdienst im riesigen Olympiastadion, ein einziger Klangteppich. Damals ahnte kaum jemand: dieser Kirchentag sollte für lange Zeit der letzte gesamtdeutsche Kirchentag sein.

 

Heute Mittag um 12 Uhr auf den Elbwiesen am Rande der Lutherstadt Wittenberg wollen Menschen aus aller Welt einen ganz besonderen Festgottesdienst feiern unter dem Motto „Von Angesicht zu Angesicht“. Sie feiern damit nicht nur den Abschluss des diesjährigen Evangelischen Kirchentags in Berlin und Wittenberg, sondern zugleich 500 Jahre Reformation.

 

„Singen und Sagen“, unter diesem Motto löste vor 500 Jahren die Glaubensbewegung der Reformation so etwas wie eine ansteckende Singbewegung aus: die Menschenfreundlichkeit Gottes sollte auch in der Sprache des Volkes lebendig werden.

Aus vielen Volksliedern wurden so Kirchenlieder, die Menschen konnten im wahrsten Sinne des Wortes den Mund aufmachen und aus vollem Herzen singen im Gottesdienst, in den Schulen und zuhause.

 

Heute in Wittenberg werden nicht nur evangelische Christinnen und Christen bewegt von der Losung „Du siehst mich“, sie feiern und stehen ein für ihren Glauben in der Gegenwart, teilen Brot und Wein, bunt, vielsprachig, hoffnungsvoll.

Erwartet werden mehr als 100.000 Menschen, sie wissen sich im Glauben verbunden, setzen ein Friedenszeichen und zeigen: Gott ist bei uns. Gott verändert uns und unsere Welt.

 

Und sie werden wieder einmal kraftvoll singen, ein tausendfacher vielstimmiger Chor.

 

 

Das so genannte „Gold des Kirchentags“, etwa 5000 Bläserinnen und Bläser mit ihren in der Sonne glänzenden Instrumenten, sie sind ein vertrautes Erkennungszeichen der Kirchentage seit 1949. Die Posaunenchöre waren seit der Zeit der Erweckung im 19. Jahrhundert die musikalische evangelische Laienbewegung, mit ihren Instrumenten Voraussetzung für den musikalischen „Freiraum“, für ein Singen und Musizieren unter offenem Himmel oder in großen Hallen. Das sprengte die stationären Grenzen der Orgel und die geschlossenen Kirchenräume.

Die Posaunenchöre begleiten die Lieder aus der Sing- und Jugendbewegung zwischen den beiden Weltkriegen und aus der „Jungen Gemeinde“ der Nachkriegszeit und ergänzen damit inoffiziell das traditionelle Repertoire des damaligen Evangelischen Kirchengesangbuchs.

 

Ein alter Choral wie „Sonne der Gerechtigkeit“ wird zum Klassiker, zum Hymnus einer protestantisch verstandenen Kirchenreformbewegung. Es gibt wohl keinen Kirchentag, wo dieses Lied nicht seine Kraft und Konsequenz weitergegeben hat.

 

 

Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu unsrer Zeit,

brich in deiner Kirche an, dass die Welt es sehen kann.

Erbarm dich, Herr.

 

                T: Str. 1 Christian David (1728) 1741; neu gestaltet von Otto Riethmüller 1932

                M: Böhmen 1467, Nürnberg 1556; geistlich Böhmische Brüder 1566 (EG 262/263,1)

 

 

Die Kirchentagsbewegung fordert und fördert nicht nur die Reform, sondern auch den ökumenischen Horizont der deutschen Protestanten.

 

Lateinamerikanische Calypso-Rhythmen oder Spirituals aus Nordamerika breiten sich in den sechziger Jahren aus – „Go, tell it on the mountain“ zum Beispiel, eingedeutscht als „Komm, sag es allen weiter“. Diese neuen Lieder prägen die „Gottesdienste in neuer Gestalt“. Sie verbreiten sich vor allem durch das Singen auf den Kirchentagen. Neue Musikinstrumente - allen voran Schlagzeug, Bass und besonders Gitarren –

erobern von dort aus auch die Kirchen.

 

 

Vater unser, Vater im Himmel.                                  Geheiligt werde dein Name.

Dein Reich komme, dein Wille geschehe.                              Geheiligt werde dein Name.

Wie im Himmel, so auch auf Erden.                        Geheiligt werde dein Name.

Unser täglich Brot, Herr, gib uns heute.                                Geheiligt werde dein Name.

Und vergib uns unsere Schuld.                                 Geheiligt werde dein Name.

Wie auch wir vergeben unseren Schuldnern.      Geheiligt werde dein Name.

Und führ uns, Herr, nicht in Versuchung.                             Geheiligt werde dein Name.

Sondern erlöse uns von dem Bösen.                      Geheiligt werde dein Name.

Denn dein ist das Reich und die Kraft.                   Geheiligt werde dein Name.

und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.                 Geheiligt werde dein Name.

 

T-Gestaltung/ M: Ernst Arfken 1958 nach einem westindischen Calypso

 

 

Neue geistliche Lieder sind in der Wirtschaftswunderzeit gefragt. Und so startet Günter Hegele, damals Studienleiter an der Ev. Akademie in Tutzing, 1960 ein Preisausschreiben zur Einsendung von neuen religiösen Liedern, „die (wie es heißt) dem auch von Jazz und Unterhaltungsmusik geprägten musikalischen Resonanzvermögen der Jugend entsprechen“.

Damit wird ganz nebenbei nicht nur der Grundstein für ein neues geistliches Singen gelegt, sondern eben auch für eine bis dahin ungewöhnliche Begegnung mit der Welt des Schlagers.

 

Das vielen bekannte „Danke für diesen guten Morgen“, ausgewählt aus mehr als 2000 Einsendungen, erhält den ersten Preis. Es wird von Paul Kuhn arrangiert, vom Botho Lucas Chor aufgenommen, stürmt die Hitparaden und Musikboxen, und wird von vielen Interpreten gecovert.

 

 

1. Danke für diesen guten Morgen, danke für jeden neuen Tag.

Danke, daß ich all meine Sorgen auf dich werfen mag.

 

2. Danke für alle guten Freunde, danke, o Herr, für jedermann.

Danke, wenn auch dem größten Feinde ich verzeihen kann.

 

3. Danke für meine Arbeitsstelle, danke für jedes kleine Glück.

Danke für alles Frohe, Helle und für die Musik.

 

4. Danke für manche Traurigkeiten, danke für jedes gute Wort.

Danke, daß deine Hand mich leiten will an jedem Ort.

 

5. Danke, daß ich dein Wort verstehe, danke, daß deinen Geist du gibst.

Danke, daß in der Fern und Nähe du die Menschen liebst.

 

6. Danke, dein Heil kennt keine Schranken, danke, ich halt mich fest daran.

Danke, ach Herr, ich will dir danken, daß ich danken kann.

 

T/ M: Martin Gotthard Schneider (1961) 1963

 

 

Auf dem Weg zum Kirchentag in Köln 1965 bin ich inzwischen mit meiner Gitarre musikalisch infiziert von den Lieder-Workshops mit dem Düsseldorfer Kirchenmusiker Oskar Gottlieb Blarr und dem Liedermacher Eckart Bücken und nehme die neuen Lieder mit in die Jugendgruppen und in den Kindergottesdienst meiner Gemeinde im Duisburger Norden.

 

In diesen Jahren um 1968, ich bin inzwischen Theologiestudent in Heidelberg, sind für die einen biblische Chansons angesagt, für andere religiöse Protestsongs.Da wechseln biblische Akzente und politische Themen.

 

Exemplarisch steht dafür das 1968 in Köln initiierte „Politische Nachtgebet“, angestoßen von Dorothee Sölle und Fulbert Steffensky. Seine unverwechselbare Grundstruktur: Information – Meditation – Kommunikation und Aktion prägt nachhaltig evangelische Gottesdienste.

 

Die Jazzsängerin Inge Brandenburg interpretiert in diesem Kontext ein „anderes Osterlied“.

 

 

1. Das könnte den Herren der Welt ja so passen,

wenn erst nach dem Tode Gerechtigkeit käme,

erst dann die Herrschaft der Herren,

erst dann die Knechtschaft der Knechte

vergessen wäre für immer,

vergessen wäre für immer.

 

2. Das könnte den Herren der Welt ja so passen,

wenn hier auf der Erde stets alles so bliebe,

wenn hier die Herrschaft der Herren,

wenn hier die Knechtschaft der Knechte

so weiterginge wie immer,

so weiterginge wie immer.

 

3. Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden,

ist schon auferstanden und ruft uns jetzt alle

zur Auferstehung auf Erden,

zum Aufstand gegen die Herren,

die mit dem Tod uns regieren,

die mit dem Tod uns regieren.

 

T: Kurt Marti 1970 / M: Peter Janssens 1970

 

 

Von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie inspiriert, spiegelt dieses „andere Osterlied“ die Begegnung von Theologie und Literatur, später als „Theopoesie“ markiert, und nimmt zugleich den alten Choral „Christ ist erstanden“ (EG 99) auf.

So entsteht die neue Legierung der kirchenmusikalischen Tradition mit dem ökumenisch erwachenden Sacro-Pop:

die Worte des Schweizer Schriftstellers und Pfarrers Kurt Marti und die Noten von Peter Janssens aus dem katholischen Telgte in Westfalen. Piet Janssens wird zum „Nestor“ dieser neuen musikalischen Szene, die keine Berührungsängste mit der Popularmusik entwickelt:

„Unser Leben sei ein Fest“ zum Beispiel, das hat er ganz im Rhythmus der Zeit arrangiert.

 

 

1. Unser Leben sei ein Fest,

Jesu Geist in unserer Mitte,

Jesu Werk in unseren Händen,

Jesu Geist in unseren Werken.

Unser Leben sei ein Fest,

so wie heute an jedem Tag.

 

2. Unser Leben sei ein Fest.

Brot und Wein für unsere Freiheit,

Jesu Wort für unsere Wege,

Jesu Weg für unser Leben.

Unser Leben sei ein Fest

so wie heute an jedem Tag.

 

T: Str. 1 Josef Metternich Team 1972, Str. 2 Kurt Rose 1982/ M: Peter Janssens 1972

 

 

Das mit vielen Hoffnungen verbundene Ökumenische Pfingsttreffen in Augsburg 1971 kann nicht die Träume von einer Ökumene erfüllen, die entscheidend weitergeht.

 

So kommt es in Düsseldorf 1973 zum Tiefpunkt der bisherigen Kirchentagsbeteiligung mit rund 7500 Dauerteilnehmern. Diese kleine „Kirchentagsgemeinde“ sorgt aber dafür: Alle bekommen alles mit und singen auch alles mit!

 

Ein neuer Aufbruch, an dem ich als frisch gebackener Theologe aktiv beteiligt bin. Dafür sorgt in besonderer Weise die „Liturgische Nacht“.

 

„Liebe ist nicht nur ein Wort“, das will nicht nur gesungen, sondern auch „mit allen Sinnen“ eingeübt werden. So ist auch der singende Glaube eingebunden in den aktuellen „Streit um die Wirklichkeit“, um ein zeitgenössisches Lesen, Auslegen und Verstehen der Bibel in der Gegenwart.

 

 

Der Himmel geht über allen auf, auf alle über, über allen auf.

Der Himmel geht über allen auf, auf alle über, über allen auf.

 

T: Wilhelm Willms 1974 / M: Peter Janssens 1974 (Kanon für 4 Stimmen)

 

 

Der Himmel für alle, ein Fest für alle, das spiegelt sich um 1980 auch in einer protestantischen Wiederentdeckung des Abendmahls, Gemeinschaft stiften und Leben teilen, durchaus diakonisch und politisch gefüllt.

 

So entwickelt sich in Nürnberg 1979 eine neue Form: das Feierabendmahl, es wird am Freitagabend zur „Mitte“ der Kirchentage. Außerdem wird das Abendmahl in den Schlussgottesdienst einbezogen, eine seit Hannover 1983 immer wieder diskutierte, aber feste Größe.

 

Nicht zu vergessen: am Vortag dieses Schlussgottesdienstes in Hannover zieht die legendäre Lila-Tücher-Demonstration am Rande des Kirchentags durch die Straßen der Stadt: „Frieden schaffen ohne Waffen“.

 

 

/: Ein jeder braucht sein Brot, sein’ Wein, und Frieden ohne Furcht soll sein. :/

/: Pflugscharen schmelzt aus Gewehren und Kanonen, daß wir im Frieden beisammen wohnen. :/

 

Das eine Brot wächst auf vielen Halmen, aus vielen Trauben wird der Wein.

Aus vielen Menschen entsteht Gemeinde, da lebt und stirbt man nicht allein.

/: Seht, unser Gott lädt alle ein, keiner soll verloren sein. :/

 

T: Friedrich Karl Barth/ Dieter Trautwein 1974 / Lothar Zenetti (Frankfurter Lieder, 1978)/

M: Nach einem aus Israel stammenden amerikanischen Volkslied (Bread and Puppet Theatre)

 

 

„Schwerter zu Pflugscharen“, da wird prophetisch deutlich, wie sich Singen und Sagen, Glauben und Handeln verbinden: das Beten und das Tun des Gerechten, wie es Dietrich Bonhoeffer formuliert hat.

 

Ehre sei Gott nicht nur in der Höhe, sondern auch auf der Erde!

 

Das erinnert und wiederholt das über Jahre hinweg beliebteste Kirchentagslied mit seinen Anklängen aus den Psalmen der Bibel: „Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt“.

 

 

1. Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt, damit ich lebe.

Ich lobe meinen Gott, der mir die Fesseln löst, damit ich frei bin.

 

Kehrvers              Ehre sei Gott auf der Erde in allen Straßen und Häusern,

                               die Menschen werden singen, bis das Lied zum Himmel steigt:

                               Ehre sei Gott und den Menschen Frieden,

                               Ehre sei Gott und den Menschen Frieden,

                               Ehre sei Gott und den Menschen Frieden, Frieden auf Erden.

 

2. Ich lobe meinen Gott, der mir den neuen Weg weist, damit ich handle.

Ich lobe meinen Gott, der mir mein Schweigen bricht, damit ich rede.

 

3. Ich lobe meinen Gott, der meine Tränen trocknet, daß ich lache.

Ich lobe meinen Gott, der meine Angst vertreibt, damit ich atme.

 

T: Hans-Jürgen Netz 1979 / M: Christoph Lohmann 1979

 

 

In der Zeit der deutschlandweiten Friedensdemos der 80er Jahre regt Carl Friedrich von Weizsäcker in Düsseldorf 1985 den vielfach diskutierten konziliaren Prozess an, den Dreiklang „Bewahrung der Schöpfung, Gerechtigkeit und Frieden“:

 

Da wird nicht nur um Frieden gerungen, sondern auch jener an prophetische Symbole erinnernde Hoffnungspsalm meditiert: „Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt“, geschrieben vom jüdischen Philosophen Schalom Ben-Chorin, vertont von Fritz Baltruweit, einem der prägenden Liedermacher der zweiten Generation.

 

 

1. Freunde, daß der Mandelzweig wieder blüht und treibt,

ist das nicht ein Fingerzeig, daß die Liebe bleibt?

 

2. Daß das Leben nicht verging, soviel Blut auch schreit,

achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit.

 

3. Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht.

Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht.

 

4. Freunde, daß der Mandelzweig, sich in Blüten wiegt,

bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt.

 

T: Schalom Ben-Chorin 1942 / M: Fritz Baltruweit 1981

 

 

Eine Vielzahl von Tonträgern und Liedersammlungen, dazu die offiziellen Liederhefte der Kirchentage befördern eine Entwicklung, Nach rund 30 Jahren ist eine große Anzahl von Kirchentagsliedern – wenn nicht im Stammteil des seit 1993 erschienenen Evangelischen Gesangbuchs (EG), so doch in vielen Regionalausgaben - vertreten. Die sogenannten „neuen geistlichen Lieder“ sind in der Gemeinde angekommen und werden auch ökumenisch „adoptiert“. Und das hat Folgen…

Der typische „Kirchentagssound“ überträgt sich auch auf das Musizieren der Bläserkreise und der Kirchenchöre.

 

Der überraschende Fall der Mauer in Berlin 1989 führt auch die Kirchentagsbewegung in Ost- und Westdeutschland wieder sichtbar zusammen. Auch wenn seit 1961 zentrale Großveranstaltungen auf dem Gebiet der DDR nicht mehr stattfinden durften, so wurden doch in den jeweiligen Landeskirchen immer wieder regionale Kirchentage gefeiert. Wie etwa im Lutherjahr 1983, dem 500. Geburtstag des Reformators, unter dem Motto „Vertrauen wagen“.

 

Die neuen geistlichen Lieder fanden ihren Weg über die Grenze in westliche, auflagenstarke Liederhefte wie in handschriftlich abgezogene Liedzettel im Osten, die in den Liedermappen der Jugendgruppen als wertvolles Gut gehütet wurden.

 

Und Lieder werden immer wieder zur provokativen Vision, gerade in stark bewölkten Zeiten - wie im Sommer vor der Wende in Erfurt 1989 – , da singen sich die Menschen mit dem Kanon „Der Himmel geht über allen auf“ gegenseitig Mut und Hoffnung zu – oder mit besonderer politischer Brisanz:

„Einsam bist du klein, aber gemeinsam werden wir Anwalt des Lebendigen sein“ (EG HS 591), nicht zu vergessen auch das Lied „Wenn das rote Meer grüne Welle hat, dann ziehen wir frei“, als der Exodus von Ost nach West auf seinen Höhepunkt zusteuert.

 

Und immer wieder begleitet von nachdenklichen, manchmal melancholischen Liedern, etwa von Gerhard Schöne aus Dresden, die auf traumhafte Weise die Phantasie beflügeln und Menschen stärken. Da werden auch alte Lieder neu lebendig.

 

 

Jesu, meine Freude, meines Herzens Weide, Jesu, wahrer Gott.

Wer will dich schon hören? Deine Worte stören den gewohnten Trott.

Du gefährdest Sicherheit. Du bist Sand im Weltgetriebe. Du, mit Deiner Liebe.

 

Du warst eingemauert. Du hast überdauert Lager, Bann und Haft.

Bist nicht totzukriegen; niemand kann besiegen deiner Liebe Kraft.

Wer dich foltert und erschlägt, hofft auf deinen Tod vergebens, Samenkorn des Lebens.

 

Jesus, Freund der Armen. Groß ist dein Erbarmen mit der kranken Welt.

Herrscher gehen unter. Träumer werden munter, die dein Wort erhellt.

Und wenn ich ganz unten bin, weiß ich dich an meiner Seite, Jesu, meine Freude.

 

T: Gerhard Schöne 1987 nach dem Text von Johann Franck 1653 (EG 396)/

M: Johann Crüger 1653 (Bearbeitung: Karl-Heinz Saleh)

 

 

Das letzte noch in das neue Evangelische Gesangbuch aufgenommene Lied aus dem Wendejahr 1989 ist „Vertraut den neuen Wegen“. Mit diesem Lied verbindet mich eine ganz besondere Erinnerung:

 

Es war beim Kirchentag in Leipzig, 1997. Lieder werden angesungen, auch „Vertraut den neuen Wegen“ ist dabei, das neue Lied aus dem Osten mit der alten Melodie von „Lob Gott getrost mit Singen“.

 

 

1. Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr uns weist,

weil Leben heißt: sich regen, weil Leben wandern heißt.

Seit leuchtend Gottes Bogen am hohen Himmel stand,

sind Menschen ausgezogen in das gelobte Land.

 

2. Vertraut den neuen Wegen und wandert in die Zeit!

Gott will, daß ihr ein Segen für seine Erde seid.

Der uns in frühen Zeiten das Leben eingehaucht,

der wird uns dahin leiten, wo er uns will und braucht.

 

3. Vertraut den neuen Wegen, auf die uns Gott gesandt!

Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land.

Wer aufbricht, der kann hoffen in Zeit und Ewigkeit.

Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.

 

T: Klaus Peter Hertzsch 1989 / M: Lob Gott getrost mit Singen (EG 243): 16.Jh.; Entlaubt ist uns der Walde; geistlich Nürnberg um 1535, Böhmische Brüder 1544, bei Otto Riethmüller 1932

 

 

Eine junge Frau neben mir strahlt schon bei den ersten Worten und Tönen, sie erzählt mir dazu ihre Geschichte:

 

Das Lied haben wir - bei uns zuhause in Jena - zuerst im November 1989 gesungen, in jenem Jahr der Wende, damals gab es ja nicht nur – hier in Leipzig - die Montagsdemonstrationen, sondern an vielen Orten der DDR kamen die Menschen, die Gemeinden in Bewegung und gingen singend auf die Straßen. Die Friedensdekade, die zehn Tage bis zum Buß- und Bettag, das war in unseren Gemeinden der DDR schon länger eine ganz besondere Gelegenheit, auch bei uns in Jena. Christinnen und Christen kamen zusammen, bildeten Menschenketten und beteten Tag für Tag in einer anderen Kirche für den Frieden... und zum Abschluss am Buß- und Bettag ein ökumenischer Abendgottesdienst in der Stadtkirche St. Michael, da haben wir das Lied zum ersten Mal gesungen und dann immer wieder: es drückt so wunderbar aus, was uns in diesen Zeiten bewegt hat. Und jetzt dieses Lied hier, auf dem ersten Kirchentag nach der Wende im Osten!

 

 

Mir geht diese Erinnerung nicht aus dem Kopf und vermischt sich mit meinen eigenen Bildern aus diesem Jahr der friedlichen Revolution... am Fernseher oder in der Zeitung, in vielen Begegnungen und Gesprächen... Was waren das damals für unvorstellbar erscheinende Veränderungen nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt, eine unentwirrbare Gemengelage aus Angst und Aufbruchsstimmung, aus Befürchtungen und Bewegungen, aus Hektik und Hoffnungen, deren Auswirkungen uns weiter begleiten und beschäftigen...

In dieser Zeit, die sich zugleich Jahr für Jahr mehr zunehmender Ernüchterung und Enttäuschung stellen musste, sich ausbreitender Rückschlage und Niederlagen… da war so ein Lied gefragt, das weiter führt, Vertrauen in die Zukunft bewahrt.

 

Ich erinnere mich an eine Begegnung: Eine fränkische Bäuerin, Mitglied im Auswahlchor, erzählt mir am Rande der Probe für den Schlussgottesdienst in Hamburg 1995.

 

 

„Wissen Sie, mein Mann versteht nicht, dass ich alle zwei Jahre zum Kirchentag fahre. Da habe ich ihm gesagt, dein Trecker muss doch auch alle zwei Jahre zum TÜV. Und das ist für mich – ganz persönlich – der Kirchentag.“

 

 

Wieder eine andere Kultur evangelischen, ökumenischen Singens entwickeln seit dem ersten Konzil der Jugend 1970 die sich ausbreitenden, meditativ wiederholenden liturgischen Gesänge aus Taizé, die vor allem von Jacques Berthier stammen.

 

 

Meine Hoffnung und meine Freude, meine Stärke, mein Licht: Christus, meine Zuversicht, auf dich vertrau ich und fürcht mich nicht, auf dich vertrau ich und fürcht mich nicht.

 

T: nach Jesaja 12 / M: Jacques Berthier, Taizé 1981

 

 

An den Festgottesdienst auf den Elbwiesen in Wittenberg, im Fernsehen übertragen, schließt sich heute ein sogenanntes „Reformationspicknick“ an, das Volk Gottes lagert sich. Da werden unter dem Motto „Seele, Leib und Sinne“ Menschen aus aller Welt in großer Runde miteinander essen und trinken – und ihre Gemeinschaft genießen. Leichtigkeit und Lebenslust sollen am Ende des Kirchentags aufstrahlen und ausstrahlen – und Menschen in der Gewissheit verbinden: „Der Himmel geht über allen auf“.

 

So können sich die vielen Menschen dann wieder singend auf den Weg machen – das orangene Liederbuch „freiTöne“ in der Tasche, Und vielleicht haben sie bald auch zuhause ein neues Lied auf den Lippen, im Ohr und im Herzen. Das Lied zum Kirchentagspsalm 139 klingt weiter: „Du bist da…“!

 

 

Kehrvers              Du bist da, du bist da, bist am Anfang der Zeit, am Grund aller Fragen bist du.

                               Bist am lichten Tag, im Dunkel der Nacht hast du für mich schon gewacht.

                               Bist am lichten Tag, im Dunkel der Nacht hast du für mich gewacht.

 

1. Nähme ich Flügel der Morgenröte, bliebe am äußersten Meer.

Schliefe ich ein im Reich der Toten, würde statt Nacht Licht um mich sein.

2. Sitze ich da und lege mich nieder, mache mich auf und ich steh.

Meine Gedanken kennst du von Ferne, weißt ganz genau, wohin ich geh.

3. Stehe ich staunend am Strand und träume, zähle die Körner im Sand.

Lote ich aus die Meerestiefe, sehe hinaus ins Sternenhaus.

 

T (nach Psalm 139): Jan von Lingen 2004/ M: Gerd Peter Münden 2004

 

 

 

Musik dieser Sendung:

1) Bläserzeichen (instrumental), Der Himmel geht über allen auf. 50 Jahre Kirchentagslieder von 1949 bis 1999, Bläserkreis Bochum/ Karl-Heinz Saretzki; Schwäbischer Posaunendienst/ Erhard Frieß; Siegerländer Bläserquartett/ Wilhelm Schmidt

2) Sonne der Gerechtigkeit, Der Himmel geht über allen auf. 50 Jahre Kirchentagslieder von 1949 bis 1999, Bläserkreis Bochum/ Karl-Heinz Saretzki;

3) Vater unser, Der Himmel geht über allen auf, Chor der Neanderkirche, Düsseldorf

4) Danke, Der Himmel geht über allen auf, Michael Schütz

5) Das könnte den Herren der Welt, Der Himmel geht über allen auf, Inge Brandenburg und The Pietbiet, Leitung: Peter Janssens

6) Unser Leben sei ein Fest, Der Himmel geht über allen auf, Gesangsorchester Peter Janssens

7) Der Himmel geht über allen auf, Der Himmel geht über allen auf. 50 Jahre Kirchentagslieder von 1949 bis 1999, Gesangsorchester Peter Janssens

8) Ein jeder braucht, Der Himmel geht über allen auf, Dieter von Goetze, Dietrich Trautwein u.a.

9) Ich lobe meinen Gott, Der Himmel geht über allen auf, Christoph Lehmann / Altstadt-Studio-Combo (Oskar Gottlieb Blarr)

10) Freunde, dass der Mandelzweig, Der Himmel geht über allen auf, Studiogruppe Baltruweit

11) Jesu. meine Freude, Der Himmel geht über allen auf, Gerhard Schöne

12) Vertraut den neuen Wegen, Spurensuche. Lieder zum Kirchentag, Lakj-Chor/ Leitung: Hans-Martin Sauter; Instrumentalisten: Michael Schütz u.a.

13) Meine Hoffnung und meine Freude, Der Himmel geht über allen auf, Jugendchor und Instrumentalisten St. Michaelis, Hamburg/ Leitung: Gerhard Dickel

14) Du bist da, Du bist da. Lieder zum Kirchentag, Wilhelmshavener Vokalensemble, Musiker: Matthias Nagel, Andreas Hermjakob, Jürgen Knautz, Stephan Krause, Leitung: Ralf Popken

 

29.05.2017
Günter Ruddat