Lob der Vielstimmigkeit

Gemeinfrei via wikimedia commons/ Pieter Bruegel d. Ä., , Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie - Turmbau zu Babel - GG 1026 - Kunsthistorisches Museum

Lob der Vielstimmigkeit
Gedanken zur Woche mit Pfarrerin Silke Niemeyer
01.04.2022 - 06:35
06.01.2022
Silke Niemeyer
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Die Gedanken zur Woche im DLF.

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Es hatte alle Welt einerlei Zunge und Sprache – so beginnt einer der größten Mythen der Weltgeschichte. Der Mythos vom Turmbau zu Babel ist eine Bibelgeschichte, die fast alle kennen: Die einstimmige und einsprachige Menschheit träumt einen grandiosen Traum und nimmt sich ein größenwahnsinniges Projekt vor: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde (Genesis 11 ff.).

Es ist der Wahn des Totalitarismus. Es ist der Wahn des Imperialismus. Es ist der Wahn von einem Volk mit einer Sprache, den die Bibel hier thematisiert. Und sie tut es nicht irgendwo, sondern ganz am Anfang, in der Urgeschichte; da, wo die Ur-fragen der Menschheit verhandelt werden: Was ist der Mensch? – in der Geschichte von Adam und Eva. In der von Kain und Abel: Woher kommt der Brudermord? Und die Geschichte vom Bau der Stadt mit himmelhohem Turm fragt: Woraus entstehen die alles dominierenden Großmächte?

Der Turmbau zu Babel ist aus der Perspektive eines Volkes erzählt, das immer und immer wieder in seiner Geschichte Beute der Großreiche wurde. Klein und in geostrategisch wichtiger Lage wurde Israel von den Assyrern, von den Babyloniern, von den Persern, von den Römern gefressen. Und litt. Und litt. Und litt. Und war beileibe kein unschuldiges Opfer. Die Gewalt, die von außen kam, setzte sich fort in Gewalt, die im Innern war. Aus Kriegen wurden Bürgerkriege, aus Bürgerkriegen Kriege.

Nicht zufällig hat dieses gebeutelte Land diese großartige Literatur hervorgebracht, für mich Heilige Schrift: die Geschichte vom Kampf des David gegen Goliath und vom Exodus aus der Sklaverei, die Zehn Gebote für ein Land ohne Tyrannei und die Bergpredigt, die die Leidenden, die Sanften, die Barmherzigen, die Friedensstifter seligpreist.

 

Es hatte alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Das ist die Welt von Gewaltherrschern, die die Sprachen von Minderheiten verbieten, Zeitungen verbieten, Radiosender verbieten, Wörter verbieten. Anstelle von Vielstimmigkeit soll ein kollektiver Monolog treten.

Der Mythos vom Turmbau macht diese Vorstellung lächerlich. Gott muss niederfahren, um das Machwerk anzugucken. Und er begreift die große Gefahr, die in den niederen Plänen steckt. Was tut Gott? Er zerstört nicht Stadt und Turm, nein, er verwirrt die Sprache, und der totalitäre Plan scheitert total. Diese Aktion Gottes ist keine Strafe, sie ist eine Befreiung, ein Segen.

Heute würde Gott vielleicht so intervenieren: Lass uns Kurzwellenradios in Russland hinstellen. „Man muss das Kurzwellenradio wiederbeleben, das den Menschen in Russland die Wahrheit sagen könnte.“, sagt die russische Kunsthistorikerin Ekaterina Degot in einem Interview vorgestern (1). „Man muss die oppositionellen russischsprachigen Medien unterstützen, die jetzt entstehen werden. (...) Die russischen Dissidenten werden Hilfe brauchen.“

Vielstimmigkeit wünsche ich mir auch hierzulande. Der russische Turmbau muss gestoppt werden. Und das geht nicht mit einer Einerleisprache und im kollektiven Monolog. Die Uneinigkeit und die Vielstimmigkeit über Waffenlieferungen und Gasembargo, über Rüstungsausgaben und die Ursachen, die zum Krieg führten – sie sind keine Schwäche, sie sind wertvoll. Auch die eigene zermürbende innere Vielstimmigkeit, was jetzt richtig ist – sie ist nichts Negatives. Es ist wichtig, sie aus- und durchzuhalten. Moraldruck und Rechthabereien dürfen nicht die Diskussion beschneiden. Ich will nicht mitmachen bei einer Kriegsrhetorik, die keine Uneindeutigkeiten, keine Unentschiedenheiten mehr gelten lässt, die nur noch Freund und Feind, richtig und falsch, Helden und Feiglinge kennt. Wir brauchen die Nuancen, die Differenzierungen, die Vieldeutigkeit und nicht zuletzt die Dichtung, um die Wahrheit auszusprechen. Frieden – kann nur mit vielerlei Zungen und Sprachen buchstabiert werden.

 

Literaturangaben:

 

  1. SZ vom 30.03.2022: https://www.sueddeutsche.de/kultur/gergiev-russland-putin-boykott-1.5556705

 

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

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06.01.2022
Silke Niemeyer