Das Nörgele im Glas

Morgenandacht
Das Nörgele im Glas
12.04.2021 - 06:35
08.04.2021
Jula Well
Sendung zum Nachhören

Die Sendung zum Nachlesen: 

Als Kind hat mir ein Buch von Michael Ende so gut gefallen, dass ich es gleich mehrmals gele-sen habe. Es geht darin um einen Zauberer, der die Welt zerstören will. Ihm entgegen steht ein Bündnis des Guten, dem letztendlich gelingt, die Machenschaften des Zauberers ins Ge-genteil zu wenden und damit viel Gutes zu tun. 
Nun lese ich dieses Buch meinen Kindern vor und dabei ist mir eine Szene aufgefallen. In die-ser wird beschrieben, wie der Zauberer alle Lebewesen einsperrt, die seinem bösen Tun im Weg stehen könnten. Fantastische Gestalten sind das, wie Kobolde und Undinen. Auch ein We-sen der Gattung Büchernörgele ist dabei. In der gezeichneten Illustration zum Text ähnelt das Büchernörgele Marcel Reich-Ranicki. 
Der Zauberer fängt also diese Wesen ein, lässt sie erstarren und sperrt sie in große Einmach-gläser. Wie saure Gurken und dicke Bohnen in der Vorratskammer werden die Widersacher so sicher konserviert. 
Durch einen günstigen Zufall aber gelingt es den Wesen eines Tages, sich aus den Gläsern zu befreien. Sie laufen los. Auch das Büchernörgele macht sich sogleich auf den Weg, seiner Be-stimmung zu folgen. Es beginnt, alles Geschriebene zu zernörgeln. Das ist sein Wesen.  

Ich lese diesen Teil der Geschichte und fühle mich ertappt. Ich kenne den Nörgler – und das nicht nur bei Büchern. Es gibt den Nörgler in Bezug auf alle Lebensbereiche. Und die schlimmste Nörglerin in meinem Leben bin ich selbst. 
Ja, die größte Kritikerin bin ich mir oft selbst. Da bleibt nichts verschont: Meine Schaffens-kraft könnte noch größer sein, die Wohnung noch ordentlicher, die Kinder noch besser geför-dert, und noch … stets lauert da ein „NOCH“. 
Ich weiß, die Nörglerin in mir ist wichtig. Sie treibt mich an. Ich kann mich verändern, kann meine Lebenswelt gestalten. Fast nichts muss so bleiben, wie es ist – und das finde ich gut. 
Die Nörglerin in mir ist aber auch blind. Sie sieht deutlich, was fehlt. Was aber da ist, nimmt sie nicht wahr. Ihre Mängelliste kennt kein Guthaben, das gut genug ist und so nörgeln mir ihre Beanstandungen ein Haar in jede Suppe. 

Und dann lese ich in einem anderen Buch. Da steht, im ersten Brief des Paulus an die Korin-ther: „Wir haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, damit wir wissen, was uns von Gott geschenkt ist.“ (1. Korinther 2,12) 
Der Geist Gottes nörgelt nicht. Er ist eine Sehhilfe. Mit den Augen des Geistes zu sehen be-deutet für mich, aufmerksam zu sein für das, was mir von Gott geschenkt ist. Der geistliche Blick fragt mich: „Siehst du, was dir Gutes geschehen ist? Erinnerst du dich, als sich dir eine Möglichkeit auftat, ganz unerwartet? Weißt du noch, wie dir geholfen wurde, dann und wann, als du nicht mehr wusstest, wie es weitergehen soll?“ Was die Nörglerin unter den Tisch kehrt, lässt der geistliche Blick zu Tage treten: Ich sehe, was mir geschenkt ist.    
Mit dem Geist zu sehen, fällt mir nicht immer leicht. Schließlich hat der Mensch in seiner Entwicklung stets davon profitiert, Probleme und Gefahren schnell erkennen zu können. Dem-entsprechend verfüge auch ich über hoch ausgebildete Sinne für die Wahrnehmung von Fehl und Mangel. 
Der geistliche Blick aber vervollständigt die Wahrnehmung meines Lebens: Ich sehe Menschen, die mir vertrauen, ohne dass ich darum ringen muss. Ich sehe Versöhnung, mit der ich nicht mehr gerechnet habe. Ich erinnere mich an helfende Hände, um die ich nicht bat. 
So sperrt der gute Geist Gottes die Nörglerin ins Glas. Für eine Weile zumindest. Und ich ent-decke: Auch die Nörglerin in mir muss nicht so bleiben, wie sie ist. Und das finde ich gut.
 

Es gilt das gesprochene Wort.


 

08.04.2021
Jula Well