Erlöse uns von dem Bösen

Morgenandacht
Erlöse uns von dem Bösen
13.04.2021 - 06:35
08.04.2021
Jula Well
Sendung zum Nachhören

Die Sendung zum Nachlesen: 

„Wenn Du einmal nicht weißt, was Du sagen sollst“, so empfahl mir eine erfahrene Pfarrerin, als ich am Anfang meines Berufes stand, „wenn Du einmal nicht weißt, was du sagen sollst, weil dir das Leben die Sprache verschlägt, aber alle auf dich schauen, weil du ja die Pfarrerin bist, dann kannst Du immer auf das eine Gebet zurückgreifen: auf das Vaterunser. Es spricht eine Sprache, die viele seit Kindertagen kennen. Und seine Worte sind so groß, dass jeder Mensch seine persönlichen Gedanken hineinlegen kann.“ 
Mit diesen Worten hat mir eine Kollegin das Vaterunser ans Herz gelegt. Ich verstand sofort, was sie meinte und beantwortete den Ratschlag mit einem freundlichen Nicken. Die Bedeu-tung ihrer Worte aber begriff ich erst später. 

Es war an einem der dunklen Tage meines Lebens. Da finde ich mich in einer Krankenhauska-pelle wieder. In der Anspannung des Krankenhauses suche ich Ruhe, folge den Wegweisern zur Kapelle und betrete einen schmucklosen Raum am Ende eines langen Flurs. Eine Kerze brennt auf dem großen Tisch in der Mitte. Daneben ein kleinerer Tisch, darauf liegt ein Buch, auf dessen Buchdeckel steht: „Hier können Sie ihre Gedanken und Sorgen niederschreiben und wir werden sie in unser Gebet aufnehmen.“ 
Nonnen, die in dem Krankenhaus arbeiten, haben das Büchlein ausgelegt. Und ich stelle mir vor, wie sie abends lesen, was die Menschen tagsüber hineingeschrieben haben und stelle mir vor, wie sie die Worte der Menschen dann in ihre Gebete aufnehmen. So halten die Schwestern Fürbitte für die Menschen, die im Krankenhaus sind – für die Kranken, für ihre Angehörigen, für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Einrichtung.   
Ich bleibe stehen, nehme das Buch und fange an, darin zu lesen. Ich lese wortreiche Einträge von langen Krankheitsgeschichten, von Verzweiflung und zerstörten Hoffnungen auf Heilung. Mittendrin bringt mich ein Eintrag zum Lächeln. Da steht: „Danke, dass bei der Geburt alles gut gegangen ist.“ 

Ich setze mich auf einen der kalten Stühle und lese weiter. Ich blättere von Eintrag zu Eintrag. Und dann treffe ich auf diese eine Seite. Ich werde diese Seite nicht vergessen. Es ist die Sei-te, die am unpersönlichsten geschrieben ist. Dort finde ich keinen Namen, keine Details zur Krankheit oder zur persönlichen Situation. Auf der ansonsten leeren Seite steht nur ein Satz. Es ist ein Satz aus dem Vaterunser. Da steht: „Erlöse uns von dem Bösen.“ 
Diese Bitte ist sehr allgemein formuliert und doch entsteht vor meinem inneren Auge ein kon-kretes Bild. Es ist mein Bild vom Dunklen und Bösen, das mir in diesen Tagen begegnet ist. Da steht, was ich selbst nicht besser hätte sagen können. Die uralten Worte drücken aus, was mir auf der Seele liegt: „Erlöse uns von dem Bösen.“ 
Und als ich da allein in der Kapelle sitze, habe ich plötzlich den Eindruck, dass wir zusam-mengehören: Alle Schreiberinnen und Schreiber, die in dieses Büchlein hineingestammelt ha-ben und alle Leserinnen und Leser, die darin blättern, gehören irgendwie zusammen. 
Vorher war es mir nicht besonders aufgefallen, dieses kleine Wort „uns“: „Erlöse uns von dem Bösen.“ Für mich stand immer das Wort „Böse“ im Vordergrund. Nun aber höre ich das Vater-unser anders: 
Ich bin nicht allein. Ich bitte nicht nur für mich. Ich sage „uns“ und bin Teil von vielen. Und ich weiß: An einem anderen Ort auf dieser Welt beten Menschen in diesem Moment das Vater-unser und bitten mit den gleichen Worten auch für mich. So wie die Nonnen im Krankenhaus abends für die Menschen beten. Und ich sage: Danke. Danke dafür!
 

Es gilt das gesprochene Wort.


 

08.04.2021
Jula Well