Peter

Morgenandacht

Gemeinfrei via unsplash / Nathan Anderson

Peter
Morgenandacht von Ulrike Greim
01.02.2023 - 06:35
29.01.2023
Ulrike Greim
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Er war gerade frisch geschieden, als er diese Frau kennengelernt hat – Iris. Als er das erste Mal mit zu ihr nach oben gebeten wird, da wundert er sich nur etwas: Die Nachbarn scheinen ja sehr aktiv zu sein des nachts. Quieken und Schubbern und manche anderen Geräusche. Sie führt ihn zart heran an die Quelle der Geräusche: Es sind nicht die Nachbarn. Sie hat zwei Jungs, Flo und Seppl. Dass es bei Flo in der Schwangerschaft Komplikationen gab, sagt sie, dass die Verbindung von Groß- und Kleinhirn nicht so gut ausgebildet ist. Dass er auf dem Entwicklungsstand eines Kleinkindes ist, trotz seiner zehn Jahre. Nebenan – das ist Flo. „Als ich ihn das das erste Mal kennengelernt habe, da habe ich Iris schon so geliebt, dass ich wusste: Wir bleiben zusammen. Er war ein Mitbringsel, das zum Leben gehört“, sagt Peter.

Ja, er habe arge Probleme gehabt, allein schon, sich an die äußere Erscheinung zu gewöhnen. Beim Gesichtsausdruck fällt auf, dass etwas nicht stimmt, Flo sabbert permanent. Er hat keinen Schluckreflex, es läuft ihm aus dem Mund. Das sei schon arg gewöhnungsbedürftig. „Irgendwann rennst du nicht mehr mit dem Tuch hinterher. Zumindest zuhause,“ sagt Peter. Iris hat alles für Flo gemacht, füttern, Trinken geben, waschen, windeln. „Als ich gesagt habe: Lass mich doch mal, dann hat sie gesagt: dann probier‘s. Sie hat immer gewartet, bis ich es von mir aus gesagt habe,“ sagt Peter.

Wenig später zieht Peter bei Iris ein. Seinen eigenen Sohn bringt er mit, die Tochter bleibt bei der Ex-Frau. Die Kinder lernen miteinander zu leben. Sein Sohn wird später sein soziales Jahr in einem Behindertenheim machen. Für Peter wird die Patchwork-Familie normal: das Leben mit Flo, mit Seppl und seinen beiden eigenen Kindern.

„Ich hatte vorher eine simple Vorstellung vom Leben,“ sagt Peter heute. „,Mit einem behinderten Kind versaust du dir dein ganzes Leben.‘ Das hat sich um 180 Grad gewandelt. Ich habe Florian kennengelernt, seine Schwächen, seine Stärken, seine Vorlieben, ich habe ihn als Mensch akzeptiert. Ich habe gemerkt, dass er nicht nur eine Belastung ist, sondern unheimlich viel Liebe zurückgibt.“

Peter findet es jedes Mal wunderbar zu sehen, wie sich Florian freut.

Das sei eben ein Unterschied. Ob man jemanden kennenlernt als Person, oder ob man nur von der Beeinträchtigung hört, aber der Mensch fremd bleibt.

Peter lernt, aufmerksam sein, mitzukriegen, was Flo will. Flo zeigt es ihm, denn sprechen kann er nicht. Er gibt ihm den Becher, das heißt, ich habe Durst. Er holt das Nutella-Glas, das heißt: Ich will ein Brot. Spazierengehen geht nur für kurze Strecken, weil Flo stark gebeugt läuft, schafft er es nicht weit, dann geht es wieder in den Rollstuhl.

Wochentags ist Florian im Heim. Am Wochenende holen sie ihn ab und er lebt in der Familie.
So geht das 25 Jahre lang.

Dann wird Iris krank. Krebs. Peter übernimmt die Familienarbeit komplett. Lange liegt seine Frau auf der Palliativstation, Peter und die Kinder besuchen sie. Was Florian davon versteht – Peter weiß es nicht. Als es auf das Ende zugeht, holen sie Iris nach Hause. Sie haben zwei Tage, sich zu verabschieden. Florian braucht lange, bis die Situation bei ihm ankommt. Er sucht seine Mutter, dann versteht er es. Geht in ihr Bett, kuschelt sich ein und bleibt liegen. Er will da nicht mehr raus. „Das war schwer“, sagt Peter. „Sehr schwer.“

Iris hatte sich gewünscht, dass er weiter für die Kinder sorgt. Sie hatten es rechtlich geregelt.

Heute ist Peter 62, Florian ist 43. Wann immer Peter zwei zusammenhängende Tage frei hat, holt er Florian aus dem Heim. „Er gibt mir so viel Liebe zurück,“ sagt Peter.

Ist Liebe ansteckend? Offensichtlich.

Denn seit einem halben Jahr hat Peter wieder eine Freundin – Marina. Sie mochte Flo vom ersten Tag an, erzählt er, und hat ihn wie einen Sohn angenommen. Keinerlei Berührungsängste. Gibt’s das? Das gibt es.

Lieben belebt.

Es gilt das gesprochene Wort.

29.01.2023
Ulrike Greim