Ich liebe Dich, mein Kind

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Ich liebe Dich, mein Kind
04.12.2021 - 10:00
03.12.2021
Petra Schulze
 

 

Ein Zweig verfängt sich

Ich streife durch den Wald. Im grauen Dezembernebel. Plötzlich bleibe ich mit dem Mantel an etwas hängen. Ach, ein Zweig hat sich verfangen. Von einer Wildkirsche. Wie schön. Den Zweig nehm´ ich mit. Ein Barbarazweig, der mir hier buchstäblich in den Schoß fällt.

Der vierte Dezember ist der Heiligen Barbara gewidmet. Sie ist in der heutigen Türkei aufgewachsen. Zu einer Zeit, als der christliche Glaube noch jung war und die ersten Christinnen und Christen verfolgt wurden. Zu seinem Glauben zu stehen bedeutet damals Lebensgefahr – wie in vielen Ländern der Erde heute immer noch. Barbara will ihr Leben ganz dem neuen christlichen, dem verbotenen Glauben widmen. Lässt sich taufen und will nicht heiraten. Ihr Vater sieht keinen anderen Ausweg – er liefert sie aus. Sie kommt ins Gefängnis. Auf dem Weg verfängt sich ein Zweig in ihren Kleidern. Sie versteckt ihn in ihrem Kleid. Du kommst mit, mein kleiner Zweig. Als Zeichen der Freiheit. Im Gefängnis benetzt sie den Zweig mit dem wenigen Wasser, das sie bekommt und legt ihn in den schmalen Lichtstrahl, der ins Verließ fällt. Und tatsächlich beginnt der Zweig zu blühen. Zarte Blütenblätter leuchten an einem kalten, todbringenden Ort. Das Leben setzt sich durch. In all seiner Schönheit. Ohne Gewalt. Nur mit der Kraft, die Gott in den Zweig gelegt hat. Lebenskraft, sogar in einem schon fast verdorrten Zweig. Barbara musste am Ende sterben, weil sie an ihrem Glauben festgehalten hat. Aber bis heute lebt sie weiter als Heilige, Nothelferin und in dem Brauch, die Barbarazweige zu schneiden. So ein Zweig ist ein Zeichen. Und ich finde, wir sollten sie miteinander teilen. Die heilsamen Zeichen.

Eine Geschichte von Tränen und Schuld

In Kanada, in der Stadt Ottawa stehe ich an einem grauen Herbsttag im Museum vor einem bunten Glasfenster. Die Künstlerin Christi Belcourt hat das Glasbild 2008 geschaffen. Sie hat das Leben der ersten Nationen Kanadas (First Nations) in all seiner Vielfalt dargestellt. Dabei auch das Unrecht das ihnen von Christinnen und Christen zugefügt worden ist. Christliche Kirchen errichteten Schulen für die „wilden Kinder“ und entriss sie ihren Eltern. Auch Zwangsadoptionen waren an der Tagesordnung. Auf dem Glasbild stehen die Kinder wie hölzerne Puppen in Reih und Glied mit traurigen Gesichtern. Diese Kinder wuchsen in christlichem Glauben auf, fernab ihrer Familien. Bis heute leiden sei schwer daran. Viele sind psychisch und körperlich krank. Diese Kinder durften die Traditionen ihrer Eltern nicht leben. Sie wurden wie Barbara eingesperrt und mit Gewalt zu einem anderen Leben gezwungen. 2008 hat sich die kanadische Regierung erstmals offiziell dafür entschuldigt. Und jetzt in den vergangenen Jahren noch einmal ein böses Erwachen und aber auch endlich Gewissheit: Die Leichen und Gräber von vielen gestohlenen und verschwundenen Kindern werden entdeckt. Eine Geschichte von unermesslichen Tränen, Leid und Schuld.

Leben blüht auf

Dieses Fenster von Christi Belcourt trägt alles ins sich – die Kraft der Rituale der First Nations – die Trommeln und die Pfeife, die Glocken am weißen Gewand, die Kraft des Lebens in den Pflanzen und im neu geborenen Kind. Und die Wunden, die dem Volk tief in seine Seele geschlagen wurden. Der Titel des Bildes heißt ins Englische übersetzt looking ahead – schau nach vorn. Das meint aber nicht nur so etwas wie: Es muss weitergehen. Guck nach vorne. Es meint etwas Tieferes: Erinnere dich. Und sieh: Immer wieder setzt sich Leben durch. Die ersten Nationen können mich einiges lehren. Was den Umgang mit Pflanzen, Tieren und den Elementen Erde, Feuer, Wasser, Luft angeht. Was es bedeutet im Einklang mit der Natur zu leben und nicht gegen sie. Und noch eine Botschaft liegt in dem Bild – verborgen hat die Künstlerin in verschiedenen Sprachen der First Nations immer wieder den Satz untergebracht: „Ich liebe dich, mein Kind“. Ein Satz, den Mütter und Väter ihren Kindern nicht mehr sagen konnten. Und den diese schmerzlich vermisst haben. Der Barbarazweig erinnert mich in diesen Tagen an alle, die wegen ihres Glaubens oder ihrer Herkunft verfolgt werden. Und er ist eine Mahnung für alle, die ihren Glauben zum Maßstab aller Dinge erheben und ihn missbrauchen, um ihre Macht zu sichern. Seid euch nicht zu sicher. Leben blüht auf. Immer wieder.

 

03.12.2021
Petra Schulze