Isenheimer Altar

Wort zum Tage
Isenheimer Altar
15.07.2020 - 06:20
25.06.2020
Hannes Langbein
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Es muss ein furchterregender Anblick gewesen sein: Die gespreizten Finger, die gewundenen Arme, die zerschlissene Haut. Niemals zuvor wurde das Leiden des Gottessohnes so schonungslos und so mitleiderregend dargestellt wie auf dem berühmten Isenheimer Altar im Französischen Colmar. Matthias Grünewald hatte ihn zwischen 1512 und 1516 für ein Hospital des Isenheimer Antoniterordens geschaffen. Der sah seine Mission darin, an Mutterkornvergiftung Erkrankte zu pflegen – damals eine äußerst schmerzhafte und mit Sicherheit tödliche Erkrankung.

Die Kranken wurden damals vor das Bild geführt – „quasi medicina“, als Teil der Therapie: Die Kranken sollten in den Wunden Christi einen Mitleidenden erkennen und sich im Mitleid getröstet fühlen. Das eigene Leiden aufgehoben im ewigen Leid Jesu. Wie es Paulus schreibt: „Denn wie die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet durch Christus.“ (2 Korinther 1,5)

„Gefühlsansteckung“ nannte das der deutsche Anthropologe Max Scheler, wenn sich Menschen Kraft ihrer Empathie mit den Gefühlen anderer Personen verbinden. Scheler war der Überzeugung, dass man sich qua Gestik und Mimik in die Gefühlswelten anderer Menschen hineinversetzen und diese unwillkürlich als die eigenen spüren können. So wie Kinder Gestik und Mimik der Eltern nachahmen und damit einen emotionalen Kontakt zu ihren Eltern herstellen.

Empathie beruht auf Ansteckung. Gesten des Leidens, Gesten der Freude übertragen sich unwillkürlich auf ihr Gegenüber: Ich leide mit, wenn ich die Fernsehbilder von Coronaerkrankten auf den Intensivstationen der Krankenhäuser sehe. Ich lasse mich von Gesten der Nächstenliebe berühren, wenn ich mir die Arbeit der Helfenden am Limit ihrer Kräfte vor Augen halte. Unsere Mitmenschlichkeit lebt davon, dass sich Gefühle vom einen zum anderen übertragen.

In Zeiten der Pandemie gehen wir auf körperliche Distanz, um Ansteckung zu vermeiden. Die Gefühlsansteckung aber funktioniert weiter – Gott sei Dank! Unsere Mitmenschlichkeit braucht diese Ansteckung. Wir dürfen uns nicht immunisieren! Im Gegenteil: Wir brauchen ein Ansteckungssystem des Trostes und der Heilung, das auch auf Distanz funktioniert. Bilder können da helfen: Facetime, Zoom, Skype und Co. im Fernkontakt mit den Liebsten. Aber auch die alten Bilder über die Zeiten hinweg wie Matthias Grünewalds Isenheimer Altar – und sei es in einer seiner vielen Reproduktionen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

25.06.2020
Hannes Langbein