Scapegoating Pictures

Wort zum Tage
Scapegoating Pictures
18.08.2017 - 06:20
15.08.2017
Pfarrer Florian Ihsen

Wer in diesen Sommermonaten in die St. Matthäus-Kirche im Berliner Kulturforum kommt, wird die Kirche nicht wiedererkennen: Sonst ein heller, nach dem Krieg modernisierter weißer Kirchenraum von Friedrich August Stüler, ist er für die Zeit der Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ verdunkelt und in ein überlebensgroßes Bilderkabinett verwandelt worden. Bilder so weit das Auge reicht: verschleierte Frauen, vermummte Männer, bombenähnliche Gebilde – und immer wieder zwei ältere Herren in Tweed, die wie Zwillingsbrüder in der Bilderlandschaft stehen.

 

Es ist das britische Künstlerduo Gilbert & George, das den Besucherinnen und Besuchern der St. Matthäus-Kirche entgegenschaut. Seit den späten 1970er Jahren haben sie als sogenannte „Living Sculptures“ ihr eigenes Leben zum Kunstwerk erklärt und sich in der Folge immer wieder selbst in ihren überlebensgroßen Fotoarbeiten abgebildet. Eigentlich würde man die beiden nicht in einem Kirchenraum erwarten. Denn mit ihren provokanten Bilderserien haben sich die Künstler einen Ruf als ausgemachte Kirchen- und Religionskritiker erarbeitet. Nun stellen sie zum ersten Mal doch in einer Kirche aus – nicht zuletzt weil sie das Terrain außerhalb der Galerien reizte und weil das Thema ihrer Bilder an diesem Ort besondere Resonanzen hat.

 

„Scapegoating Pictures“, „Sündenbock-Bilder“ nennen sie ihre Ausstellung – und spielen damit auf ein uraltes Menschheitsthema an: Die ‚delegierte Schuld’, die immer dann aktuell wird, wenn eine Gesellschaft ihre eigenen Lasten nicht mehr tragen kann oder will und sie dann anderen aufbürdet. – Im Alten Israel war das ein wichtiges Ritual: Einmal im Jahr, am sogenannten „Jom Kippur“, dem großen Versöhnungstag, wurde einem Ziegenbock von einem Priester symbolisch die Last des ganzen Volkes Israel aufgeladen und mit ihm in die Wüste geschickt, um das Volk zu entlasten – später sollte Christus, das „Lamm Gottes“, die Last der ganzen Welt als Sündenbock zu schultern haben.

 

Gilbert & George fragen nach unseren aktuellen Sündenböcken: Wem bürden wir heute unsere Lasten auf? Wer muss heute seinen Kopf hinhalten, weil wir unseren eigenen Kopf aus der Schlinge ziehen wollen? – In der Apsis der St. Matthäus-Kirche hängt ein Kreuz, das nach christlichem Verständnis für das Ende aller Sündenbockfantasien steht.  Weil sich am Kreuz Gott selbst zum Sündenbock gemacht hat, weil wir unsere eigenen Lasten Gott aufbürden dürfen, brauchen wir selbst keine Sündenböcke mehr zu suchen.

15.08.2017
Pfarrer Florian Ihsen