Von der Kraft verwandelten Zorns

Wort zum Tage
Von der Kraft verwandelten Zorns
24.07.2015 - 06:23
23.06.2015
Pfarrer Rainer Stuhlmann

HERR, ich preise dich! Du hast mir gezürnt! Möge dein Zorn sich wenden, dass du mich tröstest. (Jesaja 12,1) Nicht nur wenn Menschen Böses getan haben, auch wenn sie Böses erleiden, sagen sie: Gott zürnt mir. So deuten die Menschen in der Bibel böse Erfahrungen: Gott hat aufgehört, mich freundlich an zu schauen. Gott hat nicht verhindert, dass Menschen mir Böses angetan haben. Und wenn das Böse aufgehört hat, preisen sie Gott, weil sein Zorn verraucht ist und er sich ihnen wieder freundlich zuwendet. Von der Verwandlung des Zorns in Güte erzählt die Bibel viele Geschichten.

 

Lydia kann wunderbar zornig werden. Vielleicht weil sie als Jüdin selber so viel Zorn erlebt hat. In Großbritannien, in diesem vorbildlichen europäischen Rechtsstaat. Noch in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Ihr Name „Greenberg“ macht sie für jeden als Jüdin erkennbar. Auf ihrer Jobsuche in den sechziger Jahren gerät sie an eine Stelle als Schreibkraft im Büro eines erstklassigen Londoner Krankenhauses.

 

An den ersten Tag erinnert sie sich auch noch nach über fünfzig Jahren ganz genau. In der Kaffeepause wurde sie von der Chefin des Schreibbüros den anderen betont freundlich vorgestellt: „Und das ist Miss Greenberg.“ Alle verstummten. In das Schweigen hinein nahm die Chefin die auf dem Tisch liegende Tageszeitung in die Hand. Mit irgendeiner Meldung über Israel auf der ersten Seite. Sie las die Schlagzeile laut vor. Kurze Stille. Und dann überschütteten sie die Damen mit einem Schwall von antisemitischen Äußerungen. Bleiernes Schweigen, das bis zum Ende der Kaffeepause kein Ende nahm. Die Kränkungen und Beleidigungen verwandelten sich bei Lydia augenblicklich in Zorn. Als die Damen wieder an ihren Arbeitsplätzen waren, teilte sie der Chefin kurzer Hand mit, auf der Stelle zu kündigen.

 

In der Mittagspause soll sie ihre Papiere im Personalbüro abholen. Zu ihrem Erstaunen trifft sie dort den Chefarzt der Klinik, der sie zu einem Gespräch einlädt. Er ist Inder. „Nein, Miss Greenberg“, sagt er, „gehen Sie nicht! Sie haben die Kraft, dem Unrecht zu widerstehen. Als ich vor zwanzig Jahren nach London kam, habe ich die gleichen Erfahrungen gemacht. Niemand konnte sich damals vorstellen, dass einmal ein Inder diese renommierte Klinik leiten würde. Halten sie Ihren Zorn wach und verwandeln Sie ihn produktiv!“

 

Diese Geschichte hilft mir, Lydia heute besser zu verstehen. Seit fast fünfzig Jahren lebt sie in Israel. Eine überzeugte Zionistin, die sich für die Palästinenser in ihrem Land und in den von Israel besetzten Gebieten einsetzt. Für Gerechtigkeit und Freiheit. Ihre Kraft ist die des verwandelten Zorns.

23.06.2015
Pfarrer Rainer Stuhlmann