Menschliche Größe

Menschliche Größe
Pfarrer Benedikt Welter
13.07.2019 - 23:35
02.01.2019
Pfarrer Benedikt Welter

Er nennt sie: "Pim". Sie ihn: "Jäm". Einander nennen sie sich: "Mein liebes Herz" – in ihren Briefen, die haben sie heimlich geschrieben, und unter Todesgefahr werden ihre Kassiber hin- und hergeschmuggelt. Er sitzt nämlich ein im Gefängnis Tegel in Berlin. Sie, seine Frau pendelt zwischen dem Familiensitz Kreisau in Ostpreußen, weit weg im heutigen Polen, und der Reichshauptstadt Berlin. Helmuth James Graf von Moltke und seine Frau Freya schreiben sich innige Briefe in den Monaten von September 1944 bis zu seiner Ermordung durch die Nazi-Schergen im Januar 1945. Geschmuggelt hat die Briefe der Gefängnispfarrer. Auch er gehörte, wie die Moltkes, zum sogenannten Kreisauer Kreis. Da hatten sich Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft versammelt: katholische und evangelische Christen, Agnostiker und Atheisten, Kommunisten und Sozialisten – alle verbunden im Widerstand gegen Hitler.

 

Ich habe zu dem Buch mit diesen Briefen und Abschiedsbriefen gegriffen, weil sich in diesem Jahr so viele Ereignisse zum 75. Mal jähren, die unsere Gegenwart betreffen: der sogenannte "D-Day" im Juni; das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli.

 

Ich habe noch mal zu diesen Abschiedsbriefen von Helmuth James und Freya von Moltke gegriffen, weil ich etwas wissen will:

 

Wie kann menschliche Größe gelingen, wenn alles rundherum so sehr dagegen spricht? Eine verbrecherische Diktatur vernichtet brutal ganze Völker; eine Partei versucht, das Fühlen und Denken der Menschen in die eigene Ideologie einzusperren. Schließlich zerstört ein Krieg die eigene Heimat und das eigene Volk.

 

Ich habe wieder einmal zu diesen Abschiedsbriefen gegriffen, weil ich die großen, ja übergroßen Worte kenne und auch selbst verwende wie "Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit" – daran und an den Jahrestag der französischen Revolution erinnert ja der 14. Juli morgen. Aber bedeuten diese Worte auch etwas, wenn die Bedingungen ringsum so ganz anders sind?

 

"Dass mich meine Liebe antreibt und mein Glück, das entschwindet, ist klar." So schreibt Freya von Moltke an ihren Mann im Kerker. "Manchmal bin ich deprimiert, manchmal nicht. Du kennst den gefährlichen Wechsel, aber seit ich mit solcher tiefer Sicherheit weiß, dass wir in Gottes Hand sind und dass Tod und Leben darin wenig Unterschied machen…(seit ich weiß), dass wir uns nicht verlieren, dass wir uns wiederfinden und noch manches mehr, seitdem bin ich innen drin ruhig und unanfechtbar.""

 

Das sind beeindruckende Zeilen. Da wird nicht oberflächlich herumgequatscht. Da ist zu spüren, wie zwei Menschen liebevoll miteinander verbunden sind und bleiben – obwohl ihre Liebe aussichtslos scheint. Da zeigt sich menschliche Größe in der Hoffnung, gerade angesichts des sicheren Todes.

 

In diesen privaten und intimen Schreiben steckt für mich etwas, das gesellschaftlich und politisch von Bedeutung ist. Freya von Moltke hat es viel später noch einmal so gesagt: "Wir Menschen sind keine Eintagsfliegen, sondern kommen woher und gehen wohin. Und da, wo wir hingehen, … ist mein Mann noch wichtig. Und es ist nicht nur mein Mann, den ich in die Zukunft bringen will, sondern auch mich. Das ganze Leben, wie es war."

 

Deshalb ist Geschichte wichtig und die Erinnerung an die Liebe und an die Hoffnung; einer der vielen fünfundsiebzigsten Jahrestage in diesem Jahr ist für mich Anlass, nach menschlicher Größe heute Ausschau zu halten. Und auch nach einem so tiefen Gottvertrauen, wie ich es in diesen alten Briefen finde; beides suche ich auch für mich in der Unruhe heute.

02.01.2019
Pfarrer Benedikt Welter