San Francisco
Erlösung aus dem Digital Valley?
29.09.2019 08:35
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San Francisco – ein Traum für viele, ein Mythos für manche. Was in den 60er Jahren die Hippies in die Flower-Power-Stadt an der Bay lockte, ist heute das Silicon Valley. Glauben an eine bessere Zukunft, glauben daran, dass alles machbar ist… Diese Philosophie ist längst in den großen Tech-Konzernen angekommen. Ihre Firmenzentralen findet man in San Francisco und dem Silicon Valley. Ein Tal südlich der Stadt. Von San Francisco aus gelangt man in 40 Minuten dorthin, auf einer achtspurigen Autobahn, von denen zwei parallel in dieselbe Richtung führen. Im Berufsverkehr im Stop-and-go. Die meisten Autofahrer sitzen allein in ihren großen SUVs. Öffentlichen Personennahverkehr gibt es nicht. Nur die großen Tech-Konzerne lassen ihre Mitarbeiter mit eigenen Bussen abholen, ausgestattet mit Internet, es gibt Essen und Trinken. Die Mitarbeiter können schon im Bus gleich mit der Arbeit beginnen.

 

Tim Ole Jöhnk kennt das. Er lebt seit vielen Jahren dort. Er ist Director des Northern Germany Innovation Office, das für die Bundesländer Hamburg, Schleswig-Holstein und Bremen Wirtschaftskontakte ins Silicon Valley vermittelt:

 

Tim Ole Jöhnk:

Silicon Valley ist kein Ort, den man auf einer Karte finden kann. Es ist kein Platz, der die eine Identität besitzt. Es ist nichts, was geplant worden ist. Und es ist kein Silikon. Was es aber ist, es ist ein Mikrokosmos, in dem in den letzten Jahrzehnten erstaunliche Entwicklungen stattgefunden haben. Innovationen und Entrepreneurship. Silicon Valley ist die Innovativste hinsichtlich der Patentgründungen, für Firmen ist er immer noch der Hot Spot für Technologie überhaupt.

 

Das Schlüsselwort der Forschung im Silicon Valley heißt Künstliche Intelligenz – KI, oder wie es im Englischen heißt, Artificial Intelligence. Computerprogramme erkennen durch Algorithmen Muster und Verhaltensweisen. So macht die KI das Leben in vielen Bereichen bequemer. Mehr noch: KI hat die Kapazität sich mit Problemen zu beschäftigen, die Menschen allein nicht bewältigen können. Sie hilft heute schon dabei, Krankheiten wie Krebs oder Parkinson früher zu erkennen. Neue Medikamente werden schneller entwickelt, weil sich mit Hilfe künstlicher Intelligenz deutlich mehr Daten auswerten lassen. Selbstfahrende Autos werden von der KI gesteuert. Google, Facebook oder Intel nehmen für sich in Anspruch, die Welt zu verbessern. Ihre Manager, die Mitarbeiter für neue Technologie begeistern, nennen sich: Evangelisten. Beanspruchen die Tech-Konzerne sogar, die Welt zu erlösen?

 

Thomas Schulz:

Ein Erlösungsanspruch ist es vielleicht nicht, aber Weltverbesserung auf jeden Fall. Das ist natürlich auch Teil der ganzen Idee, wenn man sagt, der Fortschritt ist immer gut. Da muss man natürlich auch wollen, dass man die Welt damit besser macht. Sonst geht das ganze System nicht mehr. Wenn man den Fortschritt immer vorantreiben will, da muss man ihn ja auch immer gut machen, sonst funktioniert es nicht. Wenn da irgendetwas Schlechtes dran ist, dann muss man die Geschwindigkeit rausnehmen. Das wäre gegen das Geschäftsmodell.

 

Thomas Schulz ist Wirtschaftsjournalist des Nachrichtenmagazins "DER SPIEGEL". Von 2008 bis zum vorigen Jahr lebte er selbst in San Francisco. Er berichtet über Wirtschafts- und Technologiethemen und befasst sich seit Jahren mit den Auswirkungen der Digitalen Revolution und ihrer Folgen für die Gesellschaft. Sein Buch "Was Google wirklich will" erreichte die Bestsellerliste. Er beobachtet sehr präzise, wie die Künstliche Intelligenz unser Leben verändert. Computer, die im Dialog mit einem Menschen eigenständig reagieren oder Musik komponieren, sind längst Realität. Wenn Maschinen immer besser werden, besser vielleicht als Menschen – das wirft die Frage auf: was macht den Mensch zum Menschen?

 

Thomas Schulz:

Ob die Maschinen wirklich immer besser werden als wir, das ist die große Diskussion. Im Silicon Valley ist natürlich die Haltung, sie unterstützen uns bei allem. Sie können uns niemals ersetzen. Sie können nicht wirklich besser sein als wir. Sie können nur ein Helfer sein. Aber das ist natürlich nur eine Frage der Perspektive. Wenn eine Maschine schneller reagieren, analysieren kann, wenn sie genauso gut sprechen kann wie wir und verstehen kann wie wir, dann kann man natürlich auch sagen, sie ist besser.  

 

Was wird sein, wenn Maschinen ihre Erbauer überflügeln? Wird die Künstliche Intelligenz, werden also Maschinen den Menschen dann auf der Nase herumtanzen? Oder müssen wir Menschen uns dann ebenfalls optimieren, uns mit Maschinen sogar physisch vernetzen? Einige Zukunftsbegeisterte haben sich bereits Implantate in ihren Körper einsetzen lassen, mit denen das menschliche Gehirn sich mit dem Computer vernetzt. Thomas Schulz sieht darin eine nachvollziehbare Entwicklung:

 

Thomas Schulz:

Das halte ich tatsächlich für den nächsten Schritt, weil es ein ganz klares Argument dafür gibt, dass es dem Konsumenten oder dem einzelnen Menschen etwas nutzt, wenn er mit der Maschine schneller und besser kommunizieren kann. Und am Ende haben sich immer alle Sachen durchgesetzt, egal, wie wir sie moralisch bewerten. Wir haben immer alles das angenommen, was uns in irgendeiner Weise das Leben leichter macht, ob beruflich oder privat. Wenn ich mit einer Maschine direkt kommunizieren kann, werde ich es im Zweifelsfall machen.

 

 

Die Welt verbessern. Dieser Anspruch der Tech-Konzerne wird in San Francisco und Umgebung hart auf die Probe gestellt. Die Digitalisierung hat den Firmen einen unermesslichen Reichtum gebracht. Die fünf großen, Apple und Facebook, Google, Amazon und Microsoft, sind mehr wert als die 30 deutschen Dax-Unternehmen. Der Gewinn hat die Region verändert. Die Mieten sind in San Francisco, der größten Stadt in der Bay Area, deutlich gestiegen. Die Durchschnittsmiete für eine 100-Quadratmeter-Wohnung liegt bei 5.700 US-Dollar – also 5.000 Euro pro Monat.

 

Im Zentrum der Stadt mit der Golden-Gate-Bridge: die größte Milliardärsdichte weltweit. Gläserne Wolkenkratzer. Teure Autos. Auf der Straße dann der Kontrast: Obdachlose auf Schritt und Tritt, Elendsgestalten, die zwischen den schicken Häusern entlangschlurfen und auf dem nackten Beton schlafen. Die Pfarrerin der Deutschen Evangelischen Gemeinde in St. Francisco, Kerstin Weidmann, hat die Entwicklung miterlebt:

 

Kerstin Weidmann:

Man geht ja normalerweise davon aus, dass Obdachlose irgendwie Leute sind, die nichts gebacken kriegen oder irgendwo abhängig sind. Aber 70 Prozent aller Menschen, die hier in San Francisco auf der Straße leben, haben mal hier ein Dach über dem Kopf gehabt. Aber ihre Jobs zahlen nicht genug, dass sie mit den steigenden Mieten ihre Wohnungen behalten können. Es gibt Unemployment, Arbeitslosigkeit. Dann wird auch hier oft von Underemployment, Unterbezahlung, geredet. Denn selbst der Mindestlohn, der hier in San Francisco schon höher ist, als in anderen Landesteilen, reicht nicht aus, um zum Beispiel eine vierköpfige Familie zu ernähren. Man bräuchte vier Vollzeitjobs, zum Mindestlohn, um eine vierköpfige Familie hier zu ernähren.

 

Manche Familie schläft in ihrem Auto, weil sie sich das Haus nicht mehr leisten kann. Kerstin Weidmann treffe ich an einem Sonntagmorgen. Im Vorraum ihrer Kirche stehen die Gemeindeglieder nach dem Gottesdienst noch beisammen.

 

Kerstin Weidmann:

Ja. Wir haben das gerade über die letzten zehn Jahre gemerkt. Die Gentrifizierung hat stark zugenommen. Dass eben auch Stadtteile hier in San Francisco, die bis vor zehn Jahren eher noch unattraktiv waren, weil es auch Gewalt und Kriminalität gab, dass die heute von "Techis" übernommen werden. Viele Leute lassen ihre Apartment-Gebäude renovieren und haben dann auch einen Grund, um die Mieten astronomisch in die Höhe schießen zu lassen. Das ist wirklich ein großes soziales Problem.

 

Die Techfirmen ziehen gut ausgebildete Menschen aus der ganzen Welt an. Träume von einem besseren Leben haben schon in den 50er und 60er Jahren viele Deutsche nach San Francisco gelockt. So kam auch ein Großteil der Mitglieder der evangelisch-lutherischen Gemeinde in die USA, als Expats, als Angestellte großer Unternehmen, für die sie in Amerika arbeiteten. Auch heute ist das noch so. Junge Familien aus Deutschland besuchen die Gottesdienste und Feste der Gemeinde. Aber sie bleiben meist nur für ein paar Jahre und ziehen dann weiter, zu einer anderen Arbeitsstelle. Pfarrerin Weidmann kam ebenfalls aus Deutschland in die Stadt am Pazifik, vor über 20 Jahren. Und blieb.

 

Kerstin Weidmann:

Es ist das Deutsche, was die Menschen hier zusammenbringt. Und auch von einem ganz unterschiedlichen politischen und glaubensmäßigen Spektrum. Wir haben hier sehr konservative Gemeindemitglieder, auf der anderen Seite aber auch sehr liberale. Ich würde mich eher auf der progressiven Seite einordnen. Wir haben hier auch einige schwule Gemeindeglieder. Es ist, denke ich, eine sehr interessante Gruppe, mit der ich hier arbeiten kann.

 

120 Menschen fühlen sich der Gemeinde zugehörig. Sie wohnen bis zu 100 km weit weg. Viele nehmen einen weiten Weg auf sich, um sich an Sonntagen und zu Ostern oder Weihnachten in der Kirche zu treffen und Gottesdienst miteinander zu feiern.

Die evangelische Kirchengemeinde ist auch ein Ort, an dem über die Chancen und Grenzen der Künstlichen Intelligenz diskutiert wird und darüber, wie und welchen ethischen Regeln eine KI folgen sollte.

In der Diskussion sind Fragen wie diese: Was unterscheidet eine scheinbar allwissende KI von Gott, über den es im 139. Psalm heißt: "HERR, du erforschst mich und kennst mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne."

Wie können die großartigen Möglichkeiten der Digitalisierung genutzt werden – und wie kann sich jeder einzelne in der digitalen Gesellschaft seine Menschlichkeit bewahren?

 

Das sind Fragen, die die evangelische Kirche insgesamt bewegen. Digitalisierung ist keine Entwicklung, die sich aufhalten lässt. Weder durch die Kirche noch in der Kirche selbst, was auch unangemessen wäre. Um aber die Chancen der Digitalisierung aktiv zu nutzen, braucht es eine Kenntnis der Kriterien, um die Chancen und Gefahren beurteilen zu können:

 

Computer können Musik komponieren. Aber Gott loben können sie nicht. Künstliche Intelligenz erkennt Verhaltensmuster und Vorlieben, aber schert sich nicht im Geringsten darum, wie es um die Seele bestellt ist. Künstliche Intelligenz, zumindest bisher, hat kein Gewissen und weiß nichts von Gnade und Barmherzigkeit, nach der Menschen sich sehnen.

Die direkte Kommunikation untereinander, die Beziehung zu Gott – das ist den Gemeindegliedern der evangelischen Gemeinde in San Francisco wichtig, gerade bei aktuellen Fragen. Auch deshalb kommen sie zusammen: um miteinander Gottesdienst zu feiern. Die Themen der Zeit gehören dazu, genauso wie die gewohnten liturgischen Formen, einander Schuld zu vergeben, einen Neuanfang zu wagen, auch wenn menschliche Beziehungen zerbrochen sind.

 

Wer erfahren will, wie Menschen in der deutschen Gemeinde in San Francisco die Chancen der KI nutzen, aber auch die Grenzen sehen, der kann heute mit der Gemeinde Gottesdienst feiern. Das ZDF überträgt heute um 9.30 Uhr einen Gottesdienst aus der evangelisch-lutherischen St. Matthäus-Gemeinde in San Francisco.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

Scott McKenzie, San Francisco (Be Sure To Wear Flowers In Your Hair)