Eine halbe Limo-Flasche
Ein Kind hat sich verausgabt, schwitzt und trinkt in großen Schlucken mehr als die Hälfte einer Limo-Flasche, die es mit dem Geschwisterkind teilen sollte. Schreiendes Unrecht! Das Geschwisterkind, das bis eben gar keinen Durst hatte und friedlich gemalt hat, protestiert. So geht’s ja nicht. Ich hab nicht mehr die Hälfte, ich hab weniger. Dabei habe ich auch Durst. Also jetzt.
So etwas ähnliches geschieht in ganzen Gesellschaften. Welche Gesellschaft ist gerecht? Und wie ungerecht ist unsere bundesrepublikanische Gesellschaft? Viele von uns wissen das gar nicht. Zu gerne haben wir das Gefühl: Ich selbst bin eher in der Mitte der Gesellschaft, oder etwas darunter - „die da oben“, das sind andere Leute. Sogar reiche Leute mit Privatflugzeug und ohne Geldsorgen glauben von sich selbst, dass sie „obere Mittelschicht“ seien. Weil es noch weit reichere Leute als sie gibt.
Über Geld spricht man nicht
Den meisten fällt es nicht nur schwer, sich selbst einzuschätzen, sondern erst recht „die anderen“. Wie viel verdient im Durchschnitt ein Tischler? Oder ein Vorstandsmitglied in einem DAX-notierten Unternehmen? Wie hoch ist die Durchschnittsmiete in einer süddeutschen Großstadt oder einem westfälischen Dorf? Und wie stehe ich da im Verhältnis zu diesen anderen Menschen in anderen Berufen und anderen Orten? Deswegen ist die Gerechtigkeitsfrage auch subjektiv verzerrt: Bin ich das Kind, das durstig ist und mehr als die Hälfte der Flasche leergetrunken hat, oder bin ich das Kind, das vor lauter Ärger durstig geworden ist und sich beschwert? Überspitzt gesagt: Bin ich gierig oder wehleidig?
Wie kann eine Gesellschaft gewährleisten, dass ich gerecht behandelt werde? Und nicht nur ich, sondern möglichst viele Menschen? Welche Gesellschaft sollten wir uns wünschen: Eine Pyramide mit einer kleinen Oberschicht, einer schlanken Mitte der Gesellschaft und einer breiten Basis armer Menschen? Wohl kaum. Das umgekehrte Modell: eine Pyramide, die auf der Spitze steht, mit einer großen Oberschicht und nur wenigen, die da nicht hinzugehören? Auch keine schöne Vorstellung, und unrealistisch. Und sogar in einer Gesellschaft mit einer breiten Mitte und kleinen Ober- und Unterschichten gibt es Ungerechtigkeit.
Die Arbeiter im Weinberg
Ein berühmtes Gleichnis, das Jesus erzählt, bietet eine Lösung des Problems der Gerechtigkeit an. Die Arbeiter im Weinberg: Ein Winzer stellt von morgens bis zum Abend immer neue Leute ein, für sich zu arbeiten. Und am Ende bekommt jeder den Lohn eines Tages. So viel, wie man für einen Tag zum Leben braucht. Egal, wie lange jeder Arbeiter dabei war. Die Geschichte wird häufig als Bild verstanden: Vor Gott sind alle gleich und niemand bleibt zurück. Jeder, der seinen Teil zur christlichen Gemeinde hinzugefügt hat, wird in den Himmel kommen. Es geht nicht um Verdienst, es geht um Gnade.
Aber wieso nicht die Geschichte auch so verstehen, wie sie Jesus laut dem Bericht der Bibel erzählt hat? Es geht um Geld, es geht ums Wirtschaften und Gerechtigkeit. Auch im biblischen Gleichnis gibt es ein Oben und Unten, ungleiche Menschen: Einen Besitzer, der arbeiten lässt. Arbeiter, die die Arbeit erledigen. Jemanden der bezahlt - und jemanden, der bezahlt wird. Aber am Ende des Tages hat niemand so wenig, dass es zum Leben nicht reicht. Und genau daran sollte bis heute eine gerechte Gesellschaft erkennbar sein: Wie sie mit den Armen umgeht, den Schwächeren. In dieser Perspektive wäre Gerechtigkeit: Am Ende reicht’s für jeden. Und es liegt in der Verantwortung von uns allen, dafür zu sorgen, dass es so ist. Dabei kommt es gar nicht darauf an, an welcher Stelle im Gesellschaftsgefüge ich stehe - ob oben, Mitte oder eher unten. Wir können es nicht allein Menschen, die reicher sind, überlassen, sich um Menschen zu kümmern, die ärmer sind, denn dann wird eine Gesellschaft nie gerecht sein.