Die Sendung zum Nachlesen:
Eine Reise ins europäische Ausland kann auch zu einer Reise in die Vergangenheit werden. So habe ich es in Dänemark erlebt, bei einem Besuch auf der Insel Mön.
Am Rande des Hafens von Klintholm liegt ein großer Findling: ein Gedenkstein. Dieser Stein weist hin auf eine Geschichte aus der finsteren Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Eine Tafel auf dem Stein erläutert in mehreren Sprachen:
"Am Tag der Befreiung Dänemarks am 5. Mai 1945 strandeten hier 370 Gefangene aus 11 Ländern aus dem Konzentrationslager Stutthof bei Danzig. Sterbend vor Hunger und Krankheit waren sie auf eine befohlene Todesflucht über die Ostsee geschickt worden. Dieses Denkmal wurde am 50. Jahrestag aufgestellt, um die Bewohner auf Mön zu ehren, die ohne Gedanken an die eigene Sicherheit 351 der Unglücklichen retteten, und zum Gedenken an diejenigen, die nie ankamen oder die ausgestreckte Hand Klintholms zu spät erreichten."
Auch hier, in diesem kleinen friedlichen dänischen Hafen, hält dieser Gedenkstein die Erinnerung an eine grauenhafte Zeit wach. Bilder und Fragen entstehen in meinem Kopf, wenn ich vor diesem Stein stehe und versuche zu verstehen. Dieses Denkmal ehrt die Helfer. Die Bewohner Klintholms, sie haben die Elenden auf diesem Todesschiff gerettet –ohne Gedanken an die eigene Sicherheit. War das Ende des Krieges, die Befreiung, schon ganz angekommen auf der Insel Mön? Meinten die Inselbewohner womöglich noch, mit Strafe durch die deutschen Besatzer rechnen zu müssen? Ich frage mich auch, ob sie sich überwinden mussten, die Insassen dieses Todesschiffs zu retten. Der grauenhafte Anblick, das sichtbare Elend dieser Verlorenen, dazu der Schmutz und der Gestank, das mag auch abstoßend gewirkt haben.
Es fällt nicht leicht, mir solches Elend vor Augen zu rufen: zerlumpte, kranke, halbtote, entwürdigte Menschen. Die entsorgt werden sollten, raus aufs Meer geschickt, in den Tod gesandt, - denen, die das getan haben, war ihr Schicksal völlig egal.
Die Klintholmer haben sie gerettet. Sie haben versucht, diese Unglücklichen am Leben zu erhalten. 351 Menschen haben überlebt. 19 Menschen starben. Die Inschrift auf dem Gedenkstein gilt auch jenen, die es nicht geschafft haben zu überleben.
Ich versuche mir vorzustellen, wie es für die Geretteten weitergegangen ist. Es wird ja auch nach der Rettung durch die dänische Inselbevölkerung nicht alles vorbei und vergessen gewesen sein. Eine so demütigende, lebensverachtende Erfahrung wird das weitere Leben, Denken und Fühlen der Geretteten bestimmt haben. In den Tod geschickt, auf See entsorgt, was macht das mit dem Selbstbewusstsein, mit der Einstellung gegenüber dem Leben, auch nach der Rettung? Gab den Geretteten diese Hilfe der Klintholmer ihre Menschenwürde zurück? Ich stelle mir jedenfalls vor, dass sie ungeheuer erleichtert waren.
Menschen in Not zu helfen, ihr Leben zu retten – das ist noch immer nicht selbstverständlich. Schon in der biblischen Geschichte vom barmherzigen Samariter gingen erst ein Priester und ein Tempeldiener an einem Überfallenen vorbei. Bis ein Mann aus dem Ausland, ein Samariter, Erbarmen zeigte und half. So hat es Jesus erzählt.
Und heute? Leben zu retten, geflüchtete Menschen aus dem Wasser zu ziehen, damit sie im Mittelmeer nicht ertrinken, das wird in unseren Zeiten sogar kriminalisiert. Die Helfer und Helferinnen von United4Rescue und den anderen privaten Organisationen werden mit Prozessen bedroht, Rettungsschiffe in den Häfen zurückgehalten. Für mich schlägt der Gedenkstein auf Mön daher eine Brücke von damals zu heute: Auch heute ist es eine Pflicht, Menschen in Not zu retten. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber schon Jesus musste mit seiner Erzählung vom barmherzigen Samariter sehr deutlich werden.
Es gilt das gesprochene Wort.