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„Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“
Auf die Frage, von wem dieser Aphorismus ursprünglich stammt, gibt es keine zuverlässige Antwort. Aber die darin beinhaltete Metapher taucht meistens auf, wenn kritisch und kontrovers über das Wesen einer bestimmten Tradition oder deren Weitergabe diskutiert wird. Traditionen helfen, innerhalb einer Gruppe geistige Güter von Generation zu Generation weiterzugeben. Handlungsweisen und Glaubensinhalte, Gepflogenheiten und Bräuche können so geschützt über die Zeit weitertransportiert werden. Sie geben der jeweiligen Gruppe Richtlinien für die regelmäßige Lebensgestaltung, geben dem Alltag einen Rhythmus, der das Individuum stützt, und stiften den Mitgliedern der Gruppe eine kulturelle Identität. Ein auf Vertrauen basierender Vertrag zwischen den Generationen reguliert die Weitergabe. Er sichert die Akzeptanz und garantiert die Kontinuität und den sicheren Transfer.
Wenn jedoch Traditionen mit Einflüssen von außen konfrontiert werden, kann sich in ihnen eine neue Dynamik entfalten. Eine Vielzahl an fremden kulturellen Impulsen können in die Tradition einfließen und von den Gruppenmitgliedern als bereichernd empfunden werden. In anderen Fällen wiederum können sich die Gruppenmitglieder eher überfordert zeigen. Sie empfinden die fremden Impulse als feindlich gegenüber der eigenen kulturellen Identität. Ablehnung und Bekämpfung, Widerstand gegen die neu gestalteten Traditionen begleiten dann solche Prozesse.
Eine vergleichbare Haltung hörte ich aus den Worten einer guten Bekannten heraus, die ich fragte, was sie vom Valentinstag hält. „Diese neuen amerikanischen Traditionen und Bräuche brauchen wir eigentlich nicht kritiklos zu übernehmen“, war ihre Antwort. Dann fuhr sie fort: „Das ist doch genauso wie Halloween, ohne Not importiert, sinnentleert, in erster Linie aber konsumorientiert.“
Diese Meinung änderte sie auch dann nicht, als ich sagte, dass erstens der Heilige Valentin, der am Valentinstag geehrt wird, kein Amerikaner war und zweitens der Valentinstag als Feiertag vom Papst im fünften Jahrhundert festgelegt wurde, also noch lange bevor es überhaupt Amerika im heutigen Sinn gab. Und obwohl wir im kurzen Gespräch die Hintergründe nicht ausschöpfend erörtern konnten, so wurde doch klar, dass der Valentinstag von vielen als überflüssig angesehen wird, und dass er häufig mit einer sogenannten „amerikanischen Kultur“ identifiziert wird.
Laut Statistik sagen circa sechzig Prozent der Menschen in Deutschland, dass sie, im Interesse einer partnerschaftlichen Zuneigung, eine gemeinsame Aktivität am 14. Februar mit dem Partner bzw. der Partnerin begrüßen. Gleichzeitig finden es rund vierzig Prozent der Deutschen nicht nötig, den Valentinstag als Fest der Zuneigung zu begehen.
Warum so viele Menschen hierzulande keinen Zugang zum Valentinstag finden, ist schwer zu ergründen. Am vorhin zitierten Beispiel wird zunächst klar, dass sich inhaltlich die Schwerpunkte verschoben haben. Da ist zum einen der dominierende Begriff Liebe. Der steht ja im Mittelpunkt, wenn es um den Valentinstag geht. Ich höre aber meine Gesprächspartnerin fragen: Kann der Valentinstag die für die sozialen Bindungen substanzielle Füllung mit sich bringen, die im Begriff Liebe, im Begriff Zuneigung beinhaltet ist? Vereinfacht diese Tradition die menschliche Zuneigung nicht zu sehr, wenn sie das Konsumverhalten der Menschen in reichen Ländern bedient? Da müssen noch mehr Blumen aus Kenia eingeflogen werden, mehr Schokolade produziert, mehr Parfüms getestet, ohne Rücksicht auf die Folgen für Menschen und Umwelt.
Ein weiterer Schwerpunkt in der ablehnenden Haltung meines Gegenübers mache ich in ihrer Rückkoppelung auf eine als „amerikanisch“ bezeichnete Kultur aus. Dies geschieht nicht nur im Zusammenhang mit dem Valentinstag. Meine Gesprächspartnerin nannte Halloween und Valentinstag im gleichen Atemzug. Elemente aus dem kulturellen Bereich verlieren häufig ihre Akzeptanz, sobald sie als Repräsentanten eines Zeitstils aus den USA identifiziert werden. Ob in der Musik, in Filmen oder im Sport, die sogenannte amerikanische Kultur wird an vielen Stellen verpönt. Und dies auch dann, wenn die ablehnenden Menschen generell für kulturelle Offenheit plädieren. Lässt sich dieser Widerspruch erklären?
Tatsächlich hat sich der Valentinstag als Tradition in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg verbreitet. Der Feiertag ist eng mit der Präsenz der amerikanischen Soldaten im Nachkriegsdeutschland gekoppelt. In diesem Zusammenhang wird oft von der Amerikanisierung Europas gesprochen. Der frühere Politiker Klaus von Dohnanyi hat einmal über die Nachkriegszeit gesagt:
„Die amerikanische Kultur war sehr elektrisierend, kam wie ein Tsunami über uns. Sicher, viele Menschen, die gerade noch die nationalsozialistische Zeit erlebt hatten, wollten davon nicht viel hören… Man wollte nach vorne blicken und nicht zurück…“
Der Drang, das eigene Trauma hinter sich zu lassen und eine Zukunft mit illusionierenden Bildern einer vermeintlichen amerikanischen Kultur zu konstruieren, scheint sehr stark gewesen zu sein. Die Amerikanisierung fiel, so gesehen, auf ein fruchtbares Europa. Jemand hat gesagt, die Amerikanisierung erfasste nicht nur die Köpfe, sondern den ganzen Körper. Der Jazz wurde der neue Gesang, eine Entwicklung, die der Rock’n Roll noch heftiger fortsetzte. Doch die sogenannte Amerikanisierung vertrug sich schlecht mit einer Kultur, die Werte wiederbeleben will: man vermisst dort bis heute die nötige Tiefe. Dieses Defizit bewegt die Auseinandersetzung mit dem Valentinstag, wenn er stark mit den USA identifiziert wird. Nicht nur die historische Begegnung mit der Lebensweise von den hier stationierten Amerikanern bewirkt das. Sondern, wenn man vergleicht, wie Menschen in verschiedenen Ländern den Valentinstag begehen, zeigt sich, dass er nirgends so ausgiebig und weitläufig gefeiert wird wie in den USA. Dort ist er nicht nur ein Tag der Liebenden, sondern er kann als Tag der Geschenke in jeder erdenklichen Form bezeichnet werden. Man beschenkt nicht nur die Menschen um sich, sondern auch Tiere kommen selbstverständlich auf ihre Kosten. Hundekekse in Herzform oder pinke Hundebettchen gehören zu Verkaufsschlagern vor dem Valentinstag. Und dass Briefmarken mit roten Herzen speziell für den 14. Februar produziert werden, verstärkt den Gesamteindruck.
Der Valentinstag ging ursprünglich als Gedenktag in die Geschichte ein. Im fünften Jahrhundert soll Papst Gelasius den 14. Februar als den Tag festgesetzt haben, an dem des Heiligen Valentinus gedacht werden sollte. Fünfzehn Jahrhunderte blieb er ein offizieller Feiertag der Kirche. Erst im zwanzigsten Jahrhundert wurde er aus dem vatikanischen Kalender gestrichen. Doch da war er schon längst etabliert und ein Selbstläufer geworden. Natürlich verändert unter den Vorzeichen der moderneren Zeit. Doch wer war überhaupt dieser Heilige Valentinus?
Bei Valentinus handelt es sich um einen frommen Mann, der im zweiten bzw. dritten Jahrhundert nach Christi Geburt gelebt haben und als Märtyrer gestorben sein soll. Laut Erzählungen über ihn ist er am 14. Februar 269 mit 94 Jahren in Rom hingerichtet worden. Über jenen Priester und späteren Bischof wird zudem berichtet, dass er ein Wundertäter war. Ihm wird die Heilung der blinden Tochter eines seiner Gefängnisaufseher zugeschrieben. Was ihn jedoch zum Verhängnis wurde, war sein eigensinniges, aber auch mutiges Handeln, mit dem er sich gelegentlich gegen das Gesetz stellte. Tradiert wird, dass er eingesperrt wurde, weil er jungen Männern half, dem Kriegsdienst zu entkommen. Sein Rezept dabei war schlicht, hatte aber große Wirkung: Er traute junge Paare. Denn Soldaten durften, laut kaiserlichem Gesetz, nicht verheiratet sein. Wer also bereits verheiratet war, kam für den Kriegsdienst nicht mehr infrage. Von Valentinus wird auch überliefert, dass er in der Zeit der Christenverfolgung im römischen Reich Gottesdienste für die Christen feierte. Diese Verstöße kosteten ihn den Kopf.
Die Legenden um den Heiligen Valentinus zeichnen eine Persönlichkeit ab, die wohl sehr viel Liebe ausstrahlte, wenn auch nicht im romantischen Sinn. Eine tiefe Menschlichkeit, eine starke Zuneigung anderen Menschen gegenüber lässt sich in seinem Handeln erkennen. Um diese großartige Persönlichkeit zu ehren, hatte Papst Julius I. im vierten Jahrhundert nach Christus eine Basilika in Rom bauen lassen. Hinzu kam die Festlegung des Gedenktages im fünften Jahrhundert. Und trotzdem ist es schwer, die Figur Valentinus in Verbindung mit dem Valentinstag zu bringen, der heute in vielen Ländern der Welt gefeiert wird. Des Heiligen Valentinus zu gedenken ist sicher nicht der Grund, warum in Deutschland so viele Blumen verschenkt werden wie zu keinem anderen Tag im ganzen Jahr. Aber was dann?
Bekannt ist, dass im alten Rom am 14. Februar junge Männer in heiratsfähigem Alter jungen Frauen Blumen schenkten. Geehrt wurde dabei die römische Göttin Juno, die Göttin der Ehe und der Geburt. Dieser Brauch könnte durch die römische Besatzung unter anderem in England mitgebracht worden sein. Doch sicher ist das nicht. Kulturgeschichtlich betrachtet hängt die Entfaltung der romantischen Liebe im heute bekannten Sinn mit der Tradition der höfischen Liebe im Mittelalter zusammen. Das ist die Epoche, in der der mittelhochdeutsche Begriff Minne zunächst die Liebe im allgemeinen Sinn bezeichnete. In Europa jedoch festigte sich die Minne als literarisches Thema in der Lyrik und Epik. Sie wurde stilisiert und entwickelte sich zum höfischen Ausdruck idealisierter leidenschaftlicher platonischer Liebe. Im amour courtois – der französische Ausdruck für höfische, adlige Liebe - ging es um den ritterlichen Dienst für die ersehnte Dame, die ritterliche Unterwerfung als Werbung um ihre Gunst. Man besang die Minne, man trug sie lyrisch vor, und sie beflügelte Liebhaber und ihre künstlerischen Fähigkeiten. Doch diese Tradition kann nur als ein Ansatz dessen angesehen werden, was heute am Valentinstag gefeiert wird. Deutlichere Spuren lassen sich im England des achtzehnten Jahrhunderts entdecken. Dort schickten sich Liebende gegenseitig zum Valentinstag die sogenannten „Valentines.“ Das sind reichlich dekorierte Grußkarten. Sie waren so gestaltet, dass die eigentlichen Botschaften versteckt werden konnten, damit sie von den Eltern der angebeteten jungen Frauen möglichst nicht entdeckt wurden.
Der Valentinstag hat sozusagen die Welt erobert. Heute wird er in fast allen Teilen des Globus gefeiert. Eine besondere Stellung nehmen dabei die Bräuche ein, mit Hilfe derer der Valentinstag begangen wird. Sie verleihen dem Fest die Bedeutung, die es in der jeweiligen Gesellschaft hat. Hier und da werden kleine Geschenke überbracht, dann aber verschwinden die Geber oder Geberinnen sofort wieder. Dass es dann an den Empfängerinnen und Empfängern ist, zu erraten, von wem das Geschenk stammt, macht nur einen Teil des Spaßes aus. Vielmehr soll die ausgedrückte Freundschaft und die Verbundenheit auf der Empfängerseite Freude auslösen. Wo das Geschenk im Vordergrund steht und nicht der Geber, da wird mehr Raum für die Empfängerfreude gegeben.
In anderen Gesellschaften wiederum hängen verliebte junge Leute Schlösser an Brücken auf. Indem sie zuvor ihre Namen oder deren Anfangsbuchstaben auf die Schlösser schreiben, vollziehen sie einen Akt schicksalhafter Verschmelzung dieser Gegenstände mit sich selbst. Manche werfen den Schlüssel anschließend ins Wasser und markieren damit den Wunsch einer unlösbaren Verbindung. Hier wird auch die Qualität dessen ausgedrückt, was der Brauch transportieren soll: die Liebe. Sie bekommt ihre Qualität als Ursprung einer bleibenden Beziehung, in der die Treue als tragender Grund ausgelegt wird. So tragen Bräuche wertvolle Inhalte mit sich, die Menschen beglücken können. Im Erfahren ihres Glückes streuen sie es weiter, auch über die räumlichen und zeitlichen Grenzen hinweg. Sie erleben damit die Eigendynamik einer Tradition. Sie kann fortbestehen, wenn sie in der Lage ist, Menschen zu beglücken oder ihnen spürbar gute Dienste zu leisten. Dadurch pflanzt sie sich in den Folgegenerationen fort.
In Polen kristallisiert sich das Erleben des Glücks am Valentinstag in der kleinen Stadt Chelmno. Am 14. Februar pilgern Menschen aus allen Teilen des Landes Jahr für Jahr in die Stadt, die sich den Titel „Stadt der Verliebten“ markenrechtlich eintragen lassen hat. Vor dem Rathaus leuchtet ein Herz aus brennenden Kerzen. Die Bäcker backen sogenannte Valentinsbrötchen in Herzform. Hier vereinen sich ein religiöser Nervenkitzel und ein ausgiebig kultureller Event. Die Pfarrkirche Sankt Marien beherbergt, so der Glaube, einen kleinen Teil des Schädelknochens von keinem geringeren als dem Patron der Verliebten, Sankt Valentin. Diese Reliquie des Heiligen wird am Valentinstag in einem kostbaren, verzierten, silbernen Reliquienkästchen in der Kirche ausgestellt. Und hier soll schon der eine oder andere von physischem Leiden befreit worden sein. Dass der Valentinstag in Chelmno ein großer Feiertag ist, ist vor diesem Hintergrund nur selbstverständlich. Dazu gehören traditionell ein Gottesdienst in der Pfarrkirche ebenso wie das Steigenlassen von tausenden von Luftballons und zahlreiche Konzerte in der Stadt.
Überlaufen ist in Chelmno am 14. Februar auch das Standesamt. Denn der Valentinstag, der Tag der Liebe, ist zugleich ein begehrter Termin für die Heirat vieler jungen Menschen. Doch wer in Chelmno am 14. Februar seine Vermählung feiern will, der muss sich Jahre im Voraus darum bemühen. Termine sind nicht leicht zu bekommen. Im Hinblick auf den 14. Februar 2021 wird es aber anders verlaufen müssen. Der Tag wird wohl auch von den Corona-bedingten Einschränkungen überschattet werden. Nicht nur in der polnischen Stadt stehen die Menschen damit vor einer großen Herausforderung. Die Tradition, am Valentinstag zu heiraten wird weltweit begangen. Auch hier in Deutschland. Das Einengende soll jedoch den Weg der Liebenden nicht zu einer Sackgasse werden lassen. Der Liebe zueinander diesen Tag widmen, das kann sich ein Paar selbst vornehmen. Etwa der Frage nachgehen, mit welchen Worten man gerne der Partnerin oder dem Partner das Eheversprechen geben würde. Gemeinsames Nachdenken über die Basis der eigenen Beziehung und die Zukunft, die man einander schenken möchte. So kann auch an diesem Valentinstag in Coronazeiten etwas Besonderes aufleuchten. Und das große Ereignis, das Fest, das man irgendwann feiern wird, wirft sein Licht voraus.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. Nigel North, The Lady Laiton’s Almain, CD-Titel: John Dowland – Pavans, Galliards ans Almains
2. Nigel North, Pavan ‚Solus sum sola‘, CD-Titel: John Dowland – Pavans, Galliards ans Almains
3. Nigel North, Come again, sweet love, P.60, CD-Titel: John Dowland – The Queens Galliard
4. Nigel North, Galliard: Awake sweet love (new version by Nigel North), CD-Titel: John Dowland – The Queens Galliard