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Was ich will.
Von der (Un-) Freiheit des Wollens
06.04.2025 07:05

Unfreiwillig sitzt die Autorin fest, denn ihr Zug fährt nicht weiter. Aus dem Ärger über die Zwangspause wird ein grundsätzliches Nachdenken über menschliche Freiheit.

Sendung nachlesen:

Ich schrecke auf. Die viel zu laute Durchsage der Zugbegleiterin dröhnt durch die Regionalbahn. "Liebe Fahrgäste, unsere Weiterfahrt verzögert sich aufgrund…" Der Zug steht bereits seit einigen Minuten in der Landschaft. Ich seufze, meinen Anschluss kann ich vergessen, es ist nicht das erste Mal. Ich spüre Ärger in mir aufkommen. Natürlich: ich bin freiwillig in diesen Zug gestiegen, es ist das Transportmittel meiner Wahl. Und doch fühlt es sich an wie Freiheitsberaubung, hier auf offener Strecke festzusitzen. Denn: ich will an meinem Ziel ankommen und zwar pünktlich. Ich will wie geplant mit meinem Leben weitermachen. Stattdessen sitze ich hier, ob ich will oder nicht.

Als ich meinen Blick schweifen lasse, stelle ich fest, dass meine Sitznachbarin gar nicht ärgerlich oder unruhig wirkt. Im Gegenteil, sie lehnt sich entspannt zurück, lächelt sogar ein wenig und widmet sich der Serie auf ihrem Tablet. Sie scheint etwas ganz anderes zu wollen als ich, die pünktliche Ankunft ist ihr jedenfalls nicht wichtig. Sie sieht zufrieden aus.

Das wäre ich auch gern: zufrieden, aber mein Wille vorwärtszukommen steht mir im Weg. Etwas anderes zu wollen als ich will, das würde mir viel Frust ersparen. Oder einfach mal gar nichts zu wollen. Doch da sitze ich, meinem eigenen Wollen ausgeliefert und kann nicht anders, als mich zu ärgern.

Meine Sitznachbarin kichert leise über ihrer Serie - ich blicke genervt aus dem Fenster und denke an die Schienen auf denen dieser Zug steht. Sie geben den Weg vor, der Zug kann nicht einfach abbiegen, woanders lang fahren oder ausweichen. Deswegen auch die Wartezeit. Würde der Zug einfach weiterfahren, käme es womöglich zu einer Kollision. Ich denke an die Gründe, die zu meiner Situation geführt haben. Mit dem Vorwissen aller dieser Gründe hätte jemand meinen unfreiwilligen Aufenthalt rein theoretisch vorhersehen können. Stand also schon fest, dass ich in diesem Zug festsitzen würde? Ob Schicksal, Determinismus oder Kausalität, die Vorstellung, dass alles, was geschieht bereits im Voraus entschieden ist, ist erst einmal befremdlich. Als wäre mein Leben wie dieser Zug, der auf festen Schienen Richtung Endbahnhof fährt. Und ich eine Mitreisende ohne Einfluss auf Route, Stationen oder Ziel. Wäre es so, wäre alles recht einfach. Und angesichts der Komplexität der Welt, den vielen, vielen Gleisen und Weichen könnte man ganz beruhigt sein.

Es wäre wie ein Freifahrtschein, der mich von jeglicher Verantwortung für mein Leben und diese Welt entbindet. Und ob der Zug fährt oder steht, wäre eigentlich auch nicht wichtig. Ich schiele zu meiner Sitznachbarin, die sich gerade genüsslich ein Stück Schokolade in den Mund steckt. Sie scheint sich einfach treiben zu lassen, abzufinden mit dem was mit ihr geschieht.

In Psalm 139 heißt es: "Deine Augen sahen mich, da ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war." Dieser Vers drückt aus, was auch ich glaube: dass Gott mich und mein Leben durch und durch kennt. Und dieses Wissen Gottes erstreckt sich auch auf alles, das noch vor mir liegt. In diesem Glauben muss ich sagen: Es gibt nicht nur irgendeinen, sondern vermutlich einen guten Grund dafür, dass ich in diesem Zug festsitze und über meine Situation nachdenke. Gleichzeitig regt sich Widerstand in mir. Wo bleibt da meine Freiheit? Lässt sich Freiheit und der Glaube an einen allwissenden Gott miteinander verbinden?

Denn: Wenn ich nicht gerade in einem Zug festsitze, empfinde ich mich als frei. Der Mensch ist zur Freiheit verdammt, meinte der französische Philosoph Jean-Paul Sartre. Doch warum nur der Mensch und was an der Freiheit soll Verdammnis sein?

Für Sartre gibt es Dinge, deren Existenz mit ihrem Wesen zusammenfällt. So wie die Regionalbahn, in der ich sitze. So ein Zug wird nach einem bestimmten Plan gefertigt. Der Entwurf des Zuges geht seiner Existenz voraus, er braucht keine Entscheidung zu treffen, sie wird für ihn getroffen. Er ist darauf festgelegt, ein Zug zu sein.

Anders der Mensch, der erst existiert und sich dann sein Wesen, das was ihn ausmacht, selbst definiert. Für Sartre bin ich nichts, außer was ich zu sein beschließe. Das bedeutet radikale Freiheit, aber auch radikale Verantwortung für mein Handeln, ja für meine Existenz an sich. Selbst ich bin nur scheinbar gefangen in der Regionalbahn, habe ich doch mehr Möglichkeiten als ich mir zunächst eingestehe. Mein Blick wandert zu dem roten Nothammer. Ich könnte mit ihm die Scheibe einschlagen und dieses Gefängnis aus Glas und Metall hinter mir lassen. Ich lächele ein bisschen, als ich mir vorstelle wie selbst meine sorglose Sitznachbarin ihre Serie unterbricht und mir schockiert hinterherschaut.

Doch was dann? Ich stünde allein mitten in der Pampa und mit Sicherheit einem Haufen Ärger im Rücken. Mich schaudert es bei dem Gedanken. Radikale Freiheit ist beängstigend, denn in ihr bin ich vollkommen auf mich allein gestellt, mir selbst und meinen Taten ausgeliefert. Willensfreiheit bedeutet hier tatsächlich absolute Unabhängigkeit. Sartre behauptet: Unsere Handlungsmöglichkeiten sind viel zahlreicher als wir uns oft eingestehen, wir sind letztlich freier, als es uns vielleicht lieb ist.

Doch ist das die ersehnte Freiheit, wenn ich gegen jede Vernunft mit dem Nothammer die Scheibe einschlage? Eine solche Freiheit führt mich nur in die Einsamkeit.

Hinzu tritt die Erfahrung, dass ich Dinge tue, die ich eigentlich nicht tun will. Z.B. mich ärgern über mein unverdientes Verweilen in der Regionalbahn. Das würde ich gern abstellen, so wie meine Sitznachbarin, die sich mittlerweile ihrer Schuhe entledigt hat und sich entspannt zurücklehnt. Doch ich sitze immer noch stocksteif da und merke: Ich kann oft nicht so, wie ich will. Paulus hat dieses Gefühl mal treffend so zum Ausdruck gebracht:

"Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich."

Im Brief an die Gemeinde in Rom erläutert Paulus seine Theologie. Paulus will das gottgegebene Gesetz erfüllen und tut es doch nicht. Doch warum? Am Wollen scheitert es nicht. Er hat erkannt, dass dieses Gesetz "heilig, gerecht und gut" ist, und gerade dieser vollkommene Maßstab guten Handelns wird ihm zum Verhängnis, er kann ihm nicht genügen. Unfrei ist nicht sein Wollen, sondern sein Tun. Sein Lebenswandel, sein Verhältnis zu Umwelt und Mitmenschen ist so stark von seinem Unvermögen geprägt, dass er nicht anders kann, als in die gewohnten Verhaltensmuster zurückzufallen. Genau, denke ich, das stimmt sogar auf dieser Zugfahrt. Ich weiß, dass mein Ärger mich nicht aus der Situation befreit, ich will mich entspannen, das Beste aus dieser zusätzlichen Zeit im Zug machen. Doch eine innere Unruhe ergreift mich, sodass ich an nichts anderes denken kann, als endlich weiterzufahren. Ich bin geprägt von meinem Aufwachsen, meinem Charakter, meiner Kultur. Nach Sartre beschließe ich selbst, was ich bin. Doch woher kommt dann dieses Gefühl der Unfreiheit? Das Gefühl nicht so zu handeln, wie ich es eigentlich will, nicht so zu sein? Bei Paulus kulminiert diese Erfahrung in der flehentlichen Frage: "Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes?"

In der eben gehörten Arie hieß es: "Laß mich beklagen mein grausam Geschicke, laß michʼs beweinen, nicht frei zu sein." So weit würde ich in meiner Situation nicht gehen. Aber ich nehme mir ein Beispiel an meiner Sitznachbarin und erlöse meine Füße von ihrem festen Gehäuse. Zumindest die fühlen sich jetzt etwas besser, meine innere Unruhe dagegen bleibt. Wie schaffe ich es nur, meinen unfreien Willen zu überwinden?

Paulus sieht einen Ausweg aus der Unfreiheit nur in der Gnade Gottes. Indem Gott seinen Geist sendet, ermöglicht er ein neues Leben in Freiheit von dem bisherigen Lebenswandel. Hier braucht es den Geist, damit das Tun dem Wollen folgt. Aber ist der Mensch dann nicht wieder abhängig von der Gabe des Geistes? Was kann der Mensch tun und wie sieht christliche Freiheit aus?

Vielleicht hat Martin Luther eine Antwort, schließlich machte er mit seiner Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" die Freiheit zu einem zentralen Thema der Reformation. Was erst einmal paradox erscheint, denn: der Wille des Menschen ist bei Luther gar nicht frei, sondern immer fremdbestimmt durch das worauf er sich richtet, wie ein Reittier, das entweder vom Satan oder von Christus geritten wird. Ich schmunzele, als ich mir meine Sitznachbarin als Pferd vorstelle. Wenigstens wäre sie ein zufriedenes Pferd. Luther lehnt also den freien Willen ab und dennoch ist die Freiheit der Zustand, der das Leben eines Christusgläubigen am besten beschreibt. Wie geht das zusammen?

Luther selbst versuchte viele Jahre die Gebote Gottes zu halten und so ein guter Christ zu sein. Er wurde Mönch, lebte ein strenges Leben, sein Wollen richtete sich auf die Erlangung des Heils, auf die eigene Rechtfertigung, es war vollkommen selbstbezogen. Sein Wollen war letztlich geprägt von Egoismus. Luther spürte in seiner permanenten Selbstbetrachtung, dass er den Geboten der Bibel nicht gerecht wurde, nicht genug liebte, nicht genug glaubte. Und er verzweifelte daran, bis er eines Tages die Entdeckung machte, dass der Mensch sich nicht selbst retten kann, aber auch gar nicht selbst retten muss. Der Mensch ist ganz angewiesen auf die Gnade Gottes, und die wird ihm unverdientermaßen geschenkt. Sich im Glauben ganz auf Gott verlassen, das ist der Weg zum Heil. Die Last, sich selbst gerecht zu machen, fiel von Luther ab, er wurde frei davon. Keine Frömmigkeitsübungen mehr, keine guten Werke um der Pflichterfüllung willen, sondern das Wissen, bei Gott angenommen zu sein, komme was wolle. Luther handelte von diesem Tag an nicht mehr unter dem Zwang der Selbstrechtfertigung, er war frei. Die Ausrichtung seines Wollens hatte sich verändert. War Luther zuvor auf sich selbst, sein Leben, sein Heil fokussiert, so verstand er sich nun als Empfänger der Gnade, als Beschenkter. Freiheit ist eng mit Identität verknüpft. Das Wollen muss im Einklang stehen mit dem, was mich im Innersten bestimmt. Luther sah sich fortan bestimmt vom Geist Gottes. Im 2.Korintherbrief heißt es: "Der Herr ist der Geist, und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit."

Das Entscheidende an Luthers Freiheitsvorstellung ist, dass sie sich scheinbar ins Gegenteil verkehrt. Zu Beginn seiner Freiheitsschrift stellt er fest:

"Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan." Und: "Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan."

Gerade noch fühlt Luther sich befreit von der Pflicht zum täglichen Gebet, von der Pflicht zu guten Taten gegenüber seinen Nächsten. Sein Wollen ist nun ganz geprägt von der Liebe Gottes. Doch von dieser Liebe bestimmt, will sich Luther nun seinen Mitmenschen zuwenden, im freiwilligen liebevollen Dienst. Das ist christliche Freiheit! Wie dieser Dienst genau aussieht, liegt bei jedem einzelnen.

Selbst das Aufheben eines Strohhalms, so Luther, kann ein gutes Werk sein, wenn es aus Liebe geschieht. In einem Zitat von ihm kommt der Zusammenhang zwischen Gnade, Freiheit und Dienst am Nächsten besonders gut zum Ausdruck:

"Sieh, so fließt aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott. Und aus der Liebe ein freies, fröhliches, williges Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen. Denn so, wie unser Nächster Not leidet und unseres Überflusses bedarf, so haben ja auch wir Not gelitten und [Gottes] Gnade bedurft"

Was könnte ich meiner sorglosen Sitznachbarin noch Gutes tun? Sie zum Kaffee einladen? Mit ihr zusammen die Pralinen plündern -ein Geschenk, dass noch in meinem Rucksack steckt? Mal sehen. Zumindest spüre ich plötzlich etwas Freude darüber, dass sie eine gute Zeit hat. Mich selbst unter das Gesetz der Nächstenliebe stellen, ist das Freiheit? Will ich angewiesen sein auf Gottes Gnade, die den Glauben schenkt? Was muss ich dafür loslassen? Und gehen Gott und Freiheit wirklich zusammen? Hier schließt sich der Kreis und ich bin wieder bei Gott, der alles weiß, bei dem alle Fäden zusammenlaufen in seiner ewigen Existenz. Mein Leben ist vorherbestimmt. Kann ich da trotzdem frei sein oder bin ich nicht mehr als eine Tänzerin zu der Musik, die Gott aufgelegt hat?

Langsam zweifle ich daran, dass dieser Zug sich wieder in Bewegung setzen wird, dass ich vorwärtskomme. Vielleicht ist es an der Zeit, ehrlich mit mir selbst zu sein. Was mich eigentlich so unruhig macht, sind nicht die Verspätung und die vergeudete Zeit. Sondern die Erfahrung, dass ich an meiner Situation nichts ändern kann. Und dieses Gefühl begleitet mich schon seit geraumer Zeit. Wo ist freies Handeln möglich in dieser konsumorientierten, menschenverachtenden Maschinerie, zu der unsere Gesellschaft gerade mutiert? Eine Gesellschaft, deren Gesetzmäßigkeiten mich fest im Griff haben. Die Entwicklungen wirken manchmal unausweichlich, alternativlos. Ich sehne mich nach Freiheit und Offenheit.

Gott weiß alles, was war, was ist, was sein wird. Sie setzte den Rahmen. Nicht nur für mich. Dietrich Bonhoeffer war im Widerstand gegen das Naziregime tätig und wurde schließlich nach jahrelanger Haft vor achtzig Jahren im KZ Flossenburg hingerichtet. Ausgerechnet aus dem Gefängnis schrieb er über die Stationen auf dem Weg zur Freiheit. Die erste Station für Bonhoeffer ist Zucht, die Unterwerfung des eigenen Willens unter das höhere Ziel. Die zweite Station beschreibt das Erlebnis menschlicher Freiheit:

"Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen, nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit."

Einen freien Willen zu haben bedeutet nicht, beliebig zu handeln. Sondern sich seiner Gründe bewusst zu sein, ja die eigene Tat bewusst zu ergreifen, sich mit ihr zu identifizieren. Denn dass ich "ich" sage, nimmt mich in die Verantwortung für das, was ich tue. Auch wenn alles von Gott im Vorhinein gewusst wird, ich kenne die Zukunft nicht, ich entscheide in jedem Moment. So Gott es mir schenkt, geleitet von dem Gesetz der Liebe. Ich lebe, als ob ich frei wäre, und darin bin ich es auch. Doch diese Freiheit ist anders als die radikale, vollkommen unbestimmte Sartres. Denn was ich auch beschließe zu sein, Gott weiß es und trägt es mit mir. Ich habe die Hoffnung, dass ich mit solcher "als-ob-Freiheit" noch manches bewegen kann. Meine Sitznachbarin streckt sich ausgiebig. Auch meine Anspannung ist von mir abgefallen. Da setzt sich der Zug wieder in Bewegung.

Es gilt das gesprochene Wort.
 

Musik dieser Sendung:

1. Wir sind Helden: Müssen nur Wollen
2. Pharell Williams: Freedom
3. Händel: Lascia ch’io pianga
4. Bach: Denn das Gesetz des Geistes
5. The Killers: Human
6. Henry Jackman: Transfiguration

Literatur dieser Sendung:
1. Zitat Bonhoeffer:
    https://en.evangelischer-widerstand.de/pictures/documents/D2025/D2025.pdf