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Ich gehe mit meiner Schwester schwatzend durch das nächtliche Dresden, wo ich zu Besuch bin. Das Leben kann so schön sein. Gerade kommen wir von einem Konzert, haben gut gegessen und getrunken. Auf dem Heimweg gehen wir an einem Mann vorbei, der an einer Hauswand lehnt. Plötzlich eine Bewegung: "Excuse me, do you speak English?" Noch mit einem Lachen im Gesicht bleibe ich stehen, wende mich dem Mann zu. Er trägt eine schwarze Outdoor-Jacke, Kapuze auf dem Kopf, einen abgenutzten Rucksack neben sich auf dem Boden.
Er brauche noch einen Euro für eine Fahrkarte. Wir holen unsere Portemonnaies hervor und kramen im Kleingeldfach. Es klimpert. Ich finde einen Euro und lege ihn in die ausgestreckte Hand. "Oh, no…. I need three Euro!" Er braucht noch mehr Geld, ein Missverständnis, klar. Schnell landet mehr Kleingeld in der Hand des Mannes. Wir wollen weiter und bloß keine Diskussion. Einen schönen Abend gewünscht und weg sind wir. Unsere gute Laune ist ungetrübt. Ein gutes Gewissen kostet drei Euro und ein paar Zerquetschte.
Ich gebe meistens etwas Kleingeld, seit ich in Wernigerode im Harz wohne. Es kommt dort allerdings nicht so oft vor, dass mich jemand darum bittet. In Berlin war das anders. Hilfsbedürftige Menschen an jeder S-Bahnstation. Jeder Pappbecher vor meiner Nase verkleinerte meine Bereitschaft, etwas hineinzutun. Denn es sind so viele. Mit drei Euro ist nicht viel getan.
Was mir oft schwerer fällt, als etwas Kleingeld zu geben, ist, den Menschen vor mir wahrzunehmen. Ihn anzuschauen, in die Augen zu sehen und zu sagen: Hallo Mitmensch. Selbst wenn ich Geld gebe, blicke ich eher auf die Hand oder den Becher vor mir. Nicht in die Augen, die Fenster zur Seele. Denn den Anblick dieser Seele kann ich vielleicht nicht ertragen. Wohnungslose Menschen sind nahezu unsichtbar, viele schauen über sie hinweg.
Ich denke an die biblische Geschichte vom barmherzigen Samariter. Da liegt ein verletzter Mann am Straßenrand. Zwei Menschen kommen vorbei, aber sehen weg. Erst der Dritte geht hin, schaut hin und hilft. Ich bin oft wie die zwei, die vorbeigehen. Und wenn ich etwas Kleingeld gebe, schaue ich meinen Nächsten, der auf der Straße sitzt, nicht an.
"Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Kleingeld geben ist eine Sache. Wertschätzung eine andere. "Wie dich selbst…", heißt es in dem Gebot. Was würde ich mir wünschen, wenn ich um Geld bitten müsste? Vielleicht gar nicht unbedingt, dass der andere gleich ein langes Gespräch mit mir anfängt. Aber ich würde nicht wollen, dass andere mich übersehen oder wegschauen. Deshalb übe ich: etwas geben und einen direkten Blick riskieren. Ein gutes Gewissen kostet etwas Mut und ein paar Zerquetschte.
Es gilt das gesprochene Wort.