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Die Leute sind eben noch spazieren gegangen, und bleiben jetzt stehen. Sie stellen sich zu den anderen, die stehen geblieben sind, an der Bernauer Straße in Berlin-Mitte. Es ist ein Samstag, wie heute. Ein Friedensgebet, mittags um zwölf. Manche sagen, "wir gehen gerade jetzt hierher, zur Berliner Mauer". Sie sind sich der Parallelen bewusst. Die alte Ost-West-Grenze trennte Familien und Freunde. Der befriedet geglaubte Konflikt zwischen Russland und dem Westen ist nun in der Ukraine blutig wieder aufgebrochen. Wieder geht es um Grenzen. Die maßlose Gewalt, mit der russische Truppen die Grenzen des ukrainischen Nachbarlandes überschreiten, kostet zehntausenden Menschen das Leben. Auf beiden Seiten.
Ich stehe hier mit den anderen an der Kapelle und denke an meine Nachbarin Yevgenia, die in Berlin lebt und in Kiew - wo sie auch jetzt ist. Seit November hatte ich sie nicht mehr gesehen. Weil sie sich um ihre Eltern kümmert, die nicht mehr fliehen können, war sie dortgeblieben. Ich höre Klänge aus dem Inneren der Kirche, mit Lautsprechern werden sie nach draußen zum Friedensgebet übertragen. Die Organistin musiziert ein russisches Volkslied, gespielt auf dem Bajan. Es ist ein besonderes Register, das genau so klingt wie ein osteuropäisches Knopfakkordeon.
Wie jeden Samstag sprechen wir hier an der Kapelle das Versöhnungsgebet von Coventry. Die sieben Bitten werden abwechselnd in drei Sprachen gelesen. Zuerst Ukrainisch. Dann Russisch, zuletzt Deutsch. Ergreifend für mich ist schon der Vorspruch von diesem jahrzehntealten Text: "Wir alle sind schuldig geworden. Und ermangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollten".
In unserer Zeit politischer Schuldzuweisungen im Blick auf den Krieg lässt der Satz Fragen zu. Was haben wir versäumt? In was haben wir nach dem Ende des Kalten Krieges vor allem investiert? In Vertrauensbildung, oder in wirtschaftlichen Vorteil? Jede Bitte des weltweit gesprochenen Versöhnungsgebetes endet mit dem Wunsch an Gott, Vergebung erfahren zu dürfen. Das klingt berührend in den drei Sprachen: "Отче, пробач нам". "Отче, прости нам". "Vater, vergib".
"Welchen Sinn hat ein Friedensgebet", hat mich eine Freundin gefragt. Und weiter: "Zu welchem Gott beten wir, wenn wir um Frieden bitten?". Es stimmt. Unser Gebet wird vielleicht nicht die Welt verändern. Aber die Haltung des Betens wird uns verändern. Gott braucht nicht unser Gebet. Aber wir. Weil es uns achtsam macht für das Machbare, wo wir leben. Kraft liegt im Gebet, nicht weil wir Gott alle Veränderung überlassen. Sondern weil uns Konkretes zugetraut ist: Nicht wegzusehen. Die Verzweiflung derer mitzuempfinden, die jetzt aus der Ukraine gekommen sind. Und mit ihnen Wege zu finden, wie sie leben können.
Es gilt das gesprochene Wort.