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Hätte ich nur kurz noch einmal nachgesehen, dann wäre das nicht passiert. Da steht sie, eine junge Frau, und klagt sich selbst an. Ein demenzkranker Mann ist gestorben, weil er unter der Bettdecke keine Luft mehr bekommen hat. Wäre sie bloß noch einmal ins Zimmer gegangen. Aber an diesem Abend leuchteten überall auf dem Flur die roten Lämpchen. Die junge Frau ist Auszubildende im Krankenhaus. Eigentlich sollte sie nicht die Verantwortung tragen für das, was auf Station passiert. Aber sie waren eben knapp an Personal – wieder einmal.
Sie steht in einer großen Kölner Kirche – vorn am Lesepult. Der richtige Platz, um von den Menschen zu reden, die in den Kliniken und Pflegeeinrichtungen allein gelassen werden. Da kann man nur noch schreien, klagen oder um Erbarmen bitten. Vorn im Chor sehe ich den Gekreuzigten in seiner Not. Und im Kirchenschiff dicht an dicht Kolleginnen und Kollegen der jungen Frau. Sie alle haben das Gefühl, dass niemand sie hört.
Seit neun Wochen streiken sie nun, die Pflegenden an den sechs Unikliniken in Nordrhein-Westfalen. Sie streiken für ihren Tarifabschluss, vor allem aber um bessere Arbeitsstrukturen. Diese Woche wurde wieder verhandelt. Der Gewerkschaft geht es nicht nur um höheren Lohn; sie will eine Mindestbesetzung je Schicht und Station. Damit es nicht zu lebensgefährlichen Situationen kommt.
Eine Einigung ist schwierig. Aber ein längerer Streik sei den Patientinnen und Patienten nicht zuzumuten, meinen die Arbeitgeber. Ich verstehe das. Auch deshalb sieht das kirchliche Arbeitsrecht einen Streik gar nicht vor. Doch Personalmangel und Defizite in der Betreuung gibt es auch in den kirchlichen Häusern. Darüber muss offen gesprochen werden. Seit vielen Jahren wird der Pflegenotstand beklagt, bessere Bezahlung gefordert und attraktivere Arbeitsverhältnisse. Pflege ist systemrelevant - während der Pandemie war das jedem klar. Seitdem ist nicht viel passiert - außer der Corona-Prämie. Es ist höchste Zeit, dem Rad in die Speichen zu fallen, statt die Karre immer weiter in den Dreck fahren zu lassen. Längst haben viele Pflegende den Beruf verlassen, weil sie keine Hoffnung mehr hatten. Zu wenig Personal, Coronavirus und jetzt Urlaub - ganze Stationen müssen geschlossen werden.
Dabei sind wir mitten im demographischen Wandel und immer mehr auf Pflege angewiesen. Die Babyboomer gehen in Rente – auch in der Pflege. Der Arbeitskräftemangel ist unübersehbar geworden - im Handwerk, am Flughafen, im Supermarkt – und auch bei Erzieherinnen und Pflegenden. Und eine Lösung ist nicht in Sicht. Mehr Robotik, mehr Digitalisierung, bessere Bildung, mehr Migration? Und mehr Selbermachen? Das alles wird inzwischen diskutiert. Die Ahnung wird immer mehr zur Gewissheit: Wir müssen alle lernen, mit Mangel umzugehen – nicht nur bei Strom, Gas und Benzin. Ich fürchte, das gilt auch für das Gesundheitssystem. Für die Leistungen der Kassen, für Medikamente, OPs. Wir werden unsere Ansprüche herunterschrauben und uns daran gewöhnen.
Nur an einen Mangel an Empathie will ich mich nicht gewöhnen. Schon gar nicht gegenüber Kranken und Sterbenden. Es ist gut, dass die Pflegenden das auch nicht wollen. Niemand darf das von ihnen verlangen. Doch immer mehr sprechen vom „moral hazard“ – der Gefahr, dass Pflegende und Ärztinnen ihren Arbeitsalltag mit ihrem Gewissen nicht mehr vereinbaren können. Weil die Arbeit der Berufsethik nicht mehr entspricht. Und es gehört zur Berufsethik der Pflege, keinen Menschen allein zu lassen. Nicht gleichgültig zu bleiben, nicht weiter hetzen zu müssen – sondern stehen zu bleiben, wo Not ist. Wie der barmherzige Samariter. Mehr noch: Die Werke der Barmherzigkeit sind eine entscheidende Grundlage für das Miteinander in unserer Gesellschaft. Wenn diese Grundlage bricht, geht mehr zu Grunde, als mit Geld wieder gut zu machen ist. Ich bin froh, dass diese Gewerkschaftsversammlung in einer Kirche stattfand.
Denn wir sind gefragt. Mit unserem Engagement und mit unserer Fürbitte. Und auch als gutes Beispiel in unseren diakonischen Einrichtungen.
Es gilt das gesprochene Wort.