Morgenandacht
Gemeinfrei via unsplash/ Sam Schooler
Methode Himmelsloch
Morgenandacht von Vikarin Anna Julia Weingart
03.02.2024 05:35

Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 

Die Sendung zum Nachlesen: 

Es war Anfang Dezember. Schneechaos am Münchner Hauptbahnhof. Draußen: Malerisches Winterwunderland. Drinnen: Dauerbaustelle Bahnhofshalle, Absperrbänder und Hinweisschilder überall. Ein riesiges Loch in der Bahnhofsdecke über der Vorhalle, die schon seit Monaten gesperrt ist. Zwischen den Bauzäunen: dick eingepackte Menschen, Schneereste auf Schultern und Mützen, Kofferchaos. Es sind die, die wirklich dringend rausmüssen aus der Stadt und ihre Reisepläne noch nicht dem Schnee geopfert haben.

Hartnäckige Menschenmassen vor allem an Gleis 17, wo die Anzeige einen ICE nach Nürnberg verspricht, Abfahrt 7:47 Uhr. Der einzige ICE, der innerhalb der nächsten zwei Stunden überhaupt noch abfahren soll. Am Gleis wächst die Ungeduld der Leute, die im Ungewissen herumstehen, Wolken in die Luft atmen und warten. 7:45 Uhr die Ansage: Der ICE fährt mit veränderter Wagenreihenfolge. Unter den Wartenden löst das eine kleine Völkerwanderung aus. Um 7:50 Uhr die nächste Durchsage: Der ICE wird nur mit einem Wagen einfahren statt mit zweien. Zugleich geht am Gleis das Gerücht um, der Zug würde nicht ganz in den Bahnhof einfahren, sondern draußen am Gleisende halten. In die allgemeine Verunsicherung tönt um 7:55 die dritte Durchsage: An den Gleisen 11-19 gäbe es momentan keinen Strom. Daher würde der ICE an Gleis 22 halten.

Alle machen sich auf den Weg zum Gleis 22. Doch auf halbem Weg staut es sich.    
Dort steht eine Frau in Uniform der Deutschen Bahn. Dunkelblaue Hose, schiefe Mütze. Was auch immer ihre ursprüngliche Aufgabe war, sie wird zur Anlaufstelle für allen Ärger. Um sie bildet sich eine Menschentraube. Frustrierte Fragen. Sie antwortet. Wütende Bemerkungen. Sie antwortet. Sorgenvolle Anliegen. Sie antwortet. 

Ich sehe zu und trinke meinen Kaffee. Es ist 8:05 Uhr, kein ICE in Sicht. Ich gebe meine Reisepläne auf und mache mich auf den Heimweg. Gegen den Strom drängle ich mich zurück. Dabei erhasche ich zwischen Kapuzen und Schals hindurch noch einmal einen Blick auf die Mitarbeiterin der Deutschen Bahn: Ich sehe, wie sie tief einatmet.

Dabei hebt sie den Kopf leicht an, legt ihn ein wenig in den Nacken und streckt ihren Rücken. Es ist eine kleine Bewegung, beinahe unsichtbar im Gewimmel um sie herum und dauert nur einen kurzen Moment. Ihr Blick geht über die Menschen um sie hinaus. Hoch über die Baustellenwände und noch höher. Bis hinauf zur eingerissenen Bahnhofsdecke über der Baustelle in der Vorhalle. Sie blickt zwei langsame Sekunden in die Weite des blauen Winterhimmels über ihr. Dann atmet sie aus, lächelt und wendet sich der nächsten Person zu. 

Ich weiß nicht, was sie gesehen hat im blauen Himmel über der Bahnhofsdecke. Aber wie. Der Blick nach oben hat auch sie selbst hochgezogen, er hat sie aufgerichtet. Für diesen kurzen Moment wurde sie hinausgezogen aus dem Koffer-Gewimmel und dem Ärger und Chaos um sie herum. Für diesen kurzen Moment war sie ganz in der Weite des Himmels über der Bahnhofsdecke.

Ein „Himmelsloch“, so nenne ich das seitdem. Himmelslöcher sind Löcher, die den Blick nach oben ziehen. Wenn alles gerade viel ist, dann für einen Moment einatmen, den Rücken strecken, den Kopf heben und nach einem Stück Himmel suchen, nach einem Fetzen Blau oder nach etwas Weite. Ausatmen, lächeln und aufgerichtet weiter machen. Solche Himmelslöcher wünsche ich Ihnen an diesem Wochenende und in der kommenden Woche.

Es gilt das gesprochene Wort.