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Ich sitze in einem Ausstellungsraum vor einer großen Landkarte und höre der Geschichte eines Geflüchteten zu. Und ich sehe auf der Landkarte die Orte seiner Suche nach einem sicheren Land - kleine Punkte und der Weg dazwischen eine schwarze Linie. Tausende, abertausende Kilometer schrumpfen hier auf Zentimeter zusammen. Und doch besteht für mich gar kein Zweifel: Dieser junge Mann, der in Tunesien gestartet ist, hat jahrelange Irrfahrten hinter sich.
Nach Italien, nach Deutschland, wieder zurück. Dann nach Frankreich, Dänemark und Schweden, zurück nach Italien. Ein Hin und Her von Punkten und Strichen auf der Landkarte. Und doch Verbindungslinien, ganz harmlos sehen sie aus. Die Lebensgeschichte, die der junge Mann erzählt, ist es nicht.
Ausgenutzt als billige Arbeitskraft von den eigenen Verwandten, die schon in Europa leben. Der Onkel nimmt ihm sogar den Pass ab. Leben in der Illegalität, jede Arbeit, die ein wenig Geld bringt, ist recht, Flucht aus den Fängen der Familie. Ungezählte Behördengänge, die keine Lösung bringen. Es tut weh, diesem Menschen zuzuhören. So viel missbrauchtes Vertrauen. So viele Träume von einem guten Leben, die andere mit Füßen treten. Vergeudete Lebenskraft. Ein Albtraum.
Man kann in dieser Ausstellung von Landkarte zu Landkarte wandern und trifft immer wieder auf eine neue Geschichte eines geflüchteten Menschen. Unter dem Motto „Stranieri ovunque“, Fremde überall, hat die Biennale in Venedig diese Geschichten gesammelt. Ein Aspekt von Fremdsein wird hier erzählt – Menschen, die in die Fremde gehen und nirgendwo richtig ankommen.
Kurz vor dem Verlassen des Ausstellungsraumes fällt mein Blick auf große blaue Kreise an der Wand. Und hier sehe ich eine Schönheit, die mich zu Tränen rührt: Auf himmelblauem Grund sind nur noch Wege sichtbar, und zwar in Weiß. Pro Kreis ein Weg. Weiße Punkte verbunden mit weißen Linien auf himmelblauem Grund. Wie wunderschöne Sternbilder, die am Himmel erscheinen für alle, die sie erkennen und lesen können.
In den Himmel gezeichnete Wege. In die Hände Gottes geschriebene Namen. So verspricht es ein Satz im Prophetenbuch Jesaja allen, die ganz verzweifelt fragen, ob nun auch Gott sie vergessen habe. Und die Antwort heißt: „Ich habe deinen Namen in meine Hand geschrieben. Ich habe dich immer vor Augen.“ (Jesaja 49,16) Menschenwege und Sternbilder.
Am Abend sitze ich im Biennale-Venedig mit meinem Mann und unseren Freunden in einer Osteria. Es bedient uns ein junger Mann, der sich sofort freut, sein gelerntes Deutsch anwenden zu können. Helles, offenes Gesicht. „Ich komme aus Bangladesch“, sagt er. Englisch, Französisch, Italienisch habe er schon gelernt, jetzt sei Deutsch dran. Podcasts auf Deutsch jeden Abend vor dem Schlafengehen. Und es wirkt Wunder – Aussprache top. Er hat große Träume für seine Zukunft. Er strahlt, er hat Vertrauen in die Menschen und das Leben. Und ich habe großen Respekt vor seinem Mut, seiner Freundlichkeit und dieser unzerstörbaren Kraft, die das Gute in die Welt hineintragen will.
Was bewirken europäische Gesetze? Dass Fluchtwege ins Aus oder ins Leben führen? Dass Fremdheit zementiert wird? Dass diese Menschen die anderen bleiben, mit denen wir keine Berührungspunkte haben und haben sollen?
„Ich bin ein Gast auf Erden“ lehrt uns ein Psalm in der Bibel. „Ich bin ein Fremdling wie meine Väter und Mütter.“ Fremde also überall. Stranieri ovunque. In dem Psalm mündet das in eine überraschende Bitte: „Verbirg deine Gebote nicht vor mir!“ (Psalm 39,13) Und eines dieser Gebote heißt: „Fremdlinge sollst du nicht schinden noch unterdrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen.“ (2. Mose 22,20)
Es gilt das gesprochene Wort.