Testnachweis
"Als flögen wir davon"
von Pastorin Cornelia Coenen-Marx
11.09.2024 06:35

Kindern kommt ein Jahr unendlich lang vor. Je älter man wird, desto mehr scheint die Zeit zu rasen. Aber das hat auch Vorteile.

Sendung zum Nachlesen

In dieser Woche sind sogar in Baden-Württemberg und Bayern die Sommerferien vorbei und die Schule hat begonnen.. Wie schnell der Urlaub vorübergeht, wie die Tage verfliegen. Lange schlafen, draußen frühstücken, lesen und laufen. Ein Tag wie der andere. Wenn ich mich an die Sommerferien meiner Kindheit erinnere, spüre ich, wie tief die Bilder in meiner Seele gespeichert sind.  Es duftet nach frischem Gras, ich hocke an einem Bergbach in der Schweiz. Wir sammeln Steine, um einen kleinen Staudamm zu bauen. Später habe ich andere Urlaube geliebt. Es gab und gibt so viel zu sehen: die mittelalterliche Stadt, das Museum abseits der Straße, eine faszinierende Landschaft. Wenn ich heute daran denke, wundere ich mich: Wir waren nur eine Woche unterwegs, aber so viel Neues, so viel Verschiedenes steckte darin.

Manche sagen, unsere Zeitwahrnehmung verändere sich mit den Jahren. Je älter wir werden, desto weniger Neues erleben wir. Wir schöpfen aus alten Erfahrungen. Dann läuft das Leben langsamer. Aber im Rückblick rennt die Zeit nur so dahin. "Unser Leben (…) fähret schnell dahin, als flögen wir davon", heißt es in der Bibel (Psalm 90). Davonfliegen, als hätten wir keine Bodenhaftung mehr. Über den Dingen schweben - ob das vor allem im Alter spürbar ist?      

Alles zum ersten Mal

Kinder sind dem Boden noch ganz nah. Beim Krabbeln, beim Hinfallen und Aufstehen, bei jedem ersten Schritt ins Unbekannte. Zum ersten Mal Fahrrad fahren, zum ersten Mal am Wasser spielen, den ersten Tag in die Schule gehen. Groß werden. Ich bin schon sechs, sagen sie, und vor ihnen liegt ein ganzes, langes Leben. Ja, du bist schon groß, sage ich Erwachsene.

"Du bist ein Riese, Max", singt Reinhard Mey in einem Lied für seinen damals zehnjährigen Sohn. Er erzählt davon, dass die Kleinen nicht nur erdverbunden sind, sondern auch in den Himmel wachsen, während wir Älteren schrumpfen. "Kinder versetzen so lange Berge, bis der Teufelskreis beginnt, bis sie wie wir als erwachsne Zwerge endlich so klein wie wir Großen sind." 

Stimmt, wir machen uns oft genug selbst klein. Wir passen uns an, schweigen lieber, ehe wir unangenehm auffallen, halten uns an das Gewohnte. Können wir als Erwachsene wieder zu Kindern werden - so voller Vertrauen und ganz im Jetzt? Jesus verspricht das ja: Wenn ihr werdet wie die Kinder, kommt ihr dem Himmel ganz nah.

Springbrunnen und langer, ruhiger Fluss

Eine Zeit lang habe ich zwei Armbanduhren mit verschiedenen Zeiten getragen. Mit blauem Armband Düsseldorf, mit rotem Philadelphia, weil meine Schwester dort wohnte. Deine Zeit und meine Zeit. Aber die Zeit von Kindern und Erwachsenen kann man so nicht bestimmen. Das Besondere ist ja nicht, dass wir in einer anderen Zeitzone leben, sondern dass wir verschieden ticken.

Es ist vielleicht eher wie beim Wasser: Ein Springbrunnen die Kindheit, ein langer, ruhiger Fluss das Erwachsensein – und zwischendrin ein Wasserfall, wenn das Leben wieder mal turbulent wird.

Was ich großartig finde: Als Erwachsene kennen wir verschiedene Zeiten. Wir können uns in die Zeitwahrnehmung der Kinder zurückversetzen. Wir müssen uns nur Zeit nehmen für die Kleinen, dann können wir für eine kleine Ewigkeit werden wie sie. Mit ihren Augen sehen wir dann alles noch einmal zum ersten Mal.

Die Zeit, die unendlich erscheint, hat doch ein Ende. "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden", heißt es in der Bibel. Die Ferien meiner Kindheit sind lange her, und auch mein jüngster Sommerurlaub liegt hinter mir. Am Himmel sammeln sich schon die Schwalben zum Aufbruch. Sie rufen einander zu. Ihre Brustfedern glitzern silbern in der Sonne. Sie werden davonfliegen.

Wie in meiner Kindheit stelle ich mir vor, wie das wohl ist: fliegen.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage!