Wenn ich die Bilder aus Kiew in den Nachrichten sehe, berührt mich, wie Hunderttausende immer noch auf dem Platz „Maidan“ in eisiger Kälte ausharren. Am Sonntag sollen es rund eine Million Menschen werden, die ihr Gesicht zeigen. Für Rechtsstaatlichkeit. Für Europa. Für eine Gesellschaft ohne Korruption. Für Dinge also, die für uns hier in Deutschland ziemlich selbstverständlich sind und nicht sehr spektakulär klingen.
Was mich beeindruckt: So viele Menschen bleiben nicht in ihren warmen Häusern, ziehen sich nicht ins Private zurück, sondern gehen nach draußen. Ihre Sehnsucht nach Veränderung ist größer als der Wunsch nach Behaglichkeit. Mich erinnert das an die Bilder von 1989. Menschen gingen auf die Straßen der ostdeutschen Städte. Sie protestierten. Friedlich. Und sie wichen der Staatgewalt nicht. Ihre Sehnsucht nach Freiheit war stärker als ihre Angst vor Repressalien.
Direkt gegenüber vom Präsidentenpalast in Kiew steht die Kirche St. Katharinen. Es ist das Gotteshaus der deutschen Gemeinde in Kiew. An die üblichen Weihnachtsvorbereitungen ist momentan nicht zu denken. Als die Situation vor einigen Nächten eskalierte, hat sich der dortige Pfarrer im Talar zwischen die Fronten gestellt. Er erinnerte an die Montagsdemonstrationen 1989 - die nur so viel Kraft entfalten konnten, weil sie konsequent gewaltlos waren. Er kennt beide Welten: Die deutsche und die ukrainische. Er weiß, wie kostbar unsere europäischen Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit sind. Deshalb steht die deutsche Kirche in diesen Wochen Tag und Nacht offen - gibt es Kaffee, Suppe und Strom für Handy-Akkus. Wer einen Schlafplatz sucht, findet ihn hier. Leitspruch der Gemeinde ist dabei ein Wort Jesu: „Was ihr einem der geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“ Und das gilt für alle. Sowohl Demonstranten als auch Milizionäre kommen, wärmen sich auf, können spüren, dass sie willkommen sind. Ein Besinnungs-Raum soll die Kirche sein. Alle dort hoffen, dass es morgen bei den Großdemonstrationen friedlich bleibt.
Gestern habe ich mit diesem deutschen Pfarrer telefoniert – und habe ihn schließlich gefragt, wie das Weihnachtsfest in seiner Gemeinde in diesem Jahr aussehen wird. Er sagte mir: Weihnachten lassen wir uns nicht vermiesen. Wir feiern einfach. Christus kommt in unsere Welt, daraus schöpfen wir unsere Kraft. Aber Weihnachten heißt für uns auch, dass wir uns nicht abschotten gegen das, was vor unserer Tür passiert.
Unserer Sehnsucht Raum geben. Uns nicht abschotten. Denen die Tür öffnen, die um Einlass bitten. Darum geht es für mich in diesen Tagen. Nicht nur in Kiew, sondern überall auf der Welt. In 10 Tagen feiern wir Weihnachten. Eine hochschwangere Frau wird an vielen Haustüren abgewiesen. Schließlich bringt sie den Gottessohn in einem zugigen Viehstall zur Welt. Gott schenkt sich uns in einem neugeborenen Kind und bittet um Einlass in unser Leben, in unser Herz. Deshalb gilt gerade jetzt umso mehr dieser Satz Jesu: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“
Ich persönlich wünsche mir, dass auch wir uns nicht in der behaglichen Weihnachtsstube abschotten, sondern unserer Sehnsucht nach einer anderen, einer besseren Welt, Raum geben. So mutig und unerschrocken wie die Menschen in Kiew, die für ihre Sehnsucht nach Gerechtigkeit einiges aufs Spiel setzen. Dass wir unser Herz für die öffnen, die es in diesen Tagen nicht so gut haben und die unsere Hilfe brauchen. „Was ihr dem geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.“
Norddeutscher Rundfunk
Eberhard Kügler