Wort zum Sonntag
Eine Sünde, die die ganze Welt bedroht
23.05.2015 10:00

„Gier frisst Hirn“

Am Bauzaun eines Stuttgarter Großprojektes steht in Großbuchstaben der lapidare Satz: Gier frisst Hirn. Und ich möchte ergänzen: Gier frisst auch das Herz und dann den ganzen Menschen. Denn Gier ist die Haltung, die das Lebensgefühl vieler Menschen bestimmt. Gier lässt den Discounterchef eine grüne Wiese sehen, und vor seinem inneren Auge entsteht sofort ein Supermarkt mit einem großen Parkplatz. Gier lässt den Konsumenten seinen kleinen Laden um die Ecke im Stich lassen und in eben jenen Supermarkt fahren, weil er dort seine Waren um ein paar Cent billiger bekommen kann. Gier lässt den Menschen des Westens andere für sein Laster zahlen: Kinder müssen seine Kleider nähen für ein kindgerechtes, also beschämend kleines Gehalt, Arme müssen seine Nahrungsmittel produzieren; und die Armen bleiben arm dabei. Gier lässt ihn das Elend in den Fabriken im Gott sei Dank so fernen Osten klaglos hinnehmen. Gier lässt ihn den Lebensraum für die Tiere beschneiden, bis sie ausgestorben sind, lässt ihn Tiere jagen bis zur Ausrottung, weil zufällig gerade ihre Knochen Objekte irrationaler Gier sind und gut bezahlt werden. Der ganze Planet Erde leidet unter der Gier des Menschen; wie lange er noch Lebensraum und Nahrung für sein gierigstes Produkt, den Menschen, bereit halten kann, ist ungewiss.

 

„Du sollst nicht begehren“

Dabei zählt die Gier in ihrer Gestalt als Habgier oder Geiz zu den Hauptsünden, deren sich ein Christ schuldig machen kann. In der Bibel wird die Gier schon durch das zehnte Gebot untersagt: Du sollst nicht begehren! In der jüdisch-rabbinischen Auslegung dieses Wortes wird festgehalten: „Wer das Gebot „Du sollst nicht begehren“ übertritt, ist, als ob er alle Zehn Gebote übertreten hat“ (Pessiqta Rabbathi, Kap. 21, ed- Friedmann, p.107a, zitiert nach: Jakon J. Petuchowski, Die Stimme vom Sinai, Freiburg 1981). Wer nach dem Besitz seines Nächsten giert, ist irgendwann bereit, sich diesen selbst oder doch Gleichwertiges unter den Nagel zu reißen; wer die Frau des Nächsten begehrt… und so geht es weiter; die Gier macht aus rechtschaffenen Menschen sittlich-moralische Monster. Das liegt daran, dass dahinter eine tiefergehende Gier steckt, die Gier nach Leben. Weil viele Menschen die Hoffnung auf das ewige Leben verloren haben, muss alles, was das Leben bieten kann, auf den schmalen Raum der wenigen Lebensjahrzehnte zusammengepresst werden, die ein Mensch auf Erden nun mal zu leben hat. Aber dieses Leben kann nie ausreichen, um jede Gier zu befriedigen. Deshalb wird ein gieriger Mensch nicht nur von der Angst vor dem Tod bestimmt. Die Autorin Marianne Gronemeyer hat sie einen Widersacher des Lebens genannt: die Angst vor dem Versäumnis.

 

Was macht uns wirklich reich?

Die Frage ist allerdings, ob man durch die Gier wirklich das Gefühl vermeidet, etwas zu versäumen. Man übersieht dabei, was das Leben wirklich lebenswert macht: Die Offenheit für alles Neue und die Gemeinschaft mit den Menschen, die man liebt.. Wir versäumen nichts, wenn wir entdecken, wie viel wir schon haben. Vor allem, wenn wir glauben, dass das Leben mit dem Tod nicht aus ist. Aber wer gierig bleibt, zeigt, dass er diesen Glauben nicht teilt, das sollte nach alledem nicht mehr fraglich sein.