Benjamin in Ägypten
Claes Cornelisz Moeyaert: Josephs Schaffner findet den Kelch in Benjamins Sack (1627)
Benjamin in Ägypten
Bericht aus dem Schatten eines großen Bruders
11.08.2019 07:05
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Die Hungersnot … drückte das Land.

Und als verzehrt war, was sie, die Söhne Jakobs, an Getreide aus Ägypten gebracht hatten, sprach ihr Vater zu ihnen: Zieht wieder hin und kauft uns ein wenig Getreide.

Da antwortete ihm Juda und sprach: …

Willst du nun unsern Bruder mit uns senden, so wollen wir hinabziehen und dir zu essen kaufen.

Willst du ihn aber nicht senden, so ziehen wir nicht hinab. Denn der Mann … schärfte uns das hart ein und sprach: Ihr sollt nicht wieder vor mein Angesicht kommen, es sei denn euer Bruder mit euch.

Lass also den Knaben mit mir ziehen, dass wir uns aufmachen und reisen und leben und nicht sterben, wir und du und unsere Kinder. (Gen 43, 1-5.8)

 

Wir sind schon unterwegs. Die Diener unseres Vaters haben noch in der Nacht die Esel mit Reiseproviant und Geschenken bepackt; Früchte, Öle, Honig, Pistazien und Mandeln: Lauter landestypische Delikatessen für einen mysteriösen, ägyptischen Beamten, der in seinem Land für den Getreidehandel mit Ausländern zuständig ist. Obwohl meine Halbbrüder diesen mächtigen Mann als unbeugsam beschrieben haben, setzt unser Vater auf die verführerische Wirkung unserer Süßigkeiten. Von genäschigen Zungen umspielt, haben sie schon manche harte Gesichtskerbe glätten können. Außerdem lassen die Spezialitäten uns Leute aus Kanaan nicht gleich wieder als Hungerleider dastehen. Ohne eine erneute, ägyptische Alimentierung sind wir das zwar, aber wer gibt das schon gern zu, noch bevor über die Getreidepreise verhandelt wird?

 

Der erste Reiseabschnitt geht durch die Wüste. Mein Esel und ich führen die Karawane an. Hinter mir wird mein Bruder Juda durchs Gelände geschaukelt. Der Ärmste hat sich neben mehreren Wasserschläuchen auch noch die Bürde aufgeladen, mich, den jüngsten Sohn Jakobs, unter seine Fittiche zu nehmen. „Ich bürge für Benjamins Leben”, versprach er dem Vater. Wie genau Juda mich in welcher Gefahrenlage zu schützen geplant hat, verriet er Jakob nicht.

 

Von Tag zu Tag fühle ich mich freier. Judas Argusaugen sind es längst leid geworden, die flirrende Landschaft nach Wildtieren zu durchstreifen. Je näher wir dem Schwemmland kommen, desto weiter dehnen sich die Kreise aus, die ich auf eigene Faust um unsere Lagerplätze ziehen darf. Stolz melde ich meinen Brüdern die ersten Zypressengerippe, die sich irgendwann aus dem kargen Untergrund schälen. „Na und?” Meine Reisegefährten tun so, als hätten sie den Wandel von Klima und Vegetation schon ein Dutzend Mal erlebt. Kein scharlachroter Boden, kein grellgrünes Schilfrohr weckt ihre Vorfreude auf unser fruchtbares Reiseziel. Im Gegenteil: Je näher wir der Sonnenstadt kommen, desto ausgiebigere Pausen legen sie ein. Ihre Verzögerungstaktik muss mit dem Schrecken zusammen hängen, der meinen Brüdern seit ihrer vorigen Ägyptenreise in den Knochen steckt. Zwar kamen sie mit prallvollen Säcken zu uns zurück, zwar war ihnen das Korn am Ende sogar kostenlos überlassen worden. Aber der äußere Erfolg der ersten Reise wog die Tatsache nicht auf, dass einer meiner Halbbrüder in Ägypten inhaftiert und in Gewahrsam genommen worden war; als eine Art Geisel, wenn ich das Gestammel der anderen richtig verstanden habe. Jetzt fürchten meine Reisegefährten, dass unser Bruder Simeon uns nur noch als einbalsamierter Leichnam zurückgegeben wird, und dass sie für den Rest ihrer Tage mit einem Vorwurf leben müssen, mit dem auch ich schon als Kind von unserem Vater traktiert wurde:

 

Da sprach Jakob, ihr Vater, zu ihnen: Ihr beraubt mich meiner Kinder! Josef ist nicht mehr da, Simeon ist nicht mehr da, Benjamin wollt ihr auch wegnehmen; es geht alles über mich. (Gen 42, 36)

 

Joseph. Immer nur Joseph. Sobald unser Vater diesen Namen in den Mund nimmt, wird seine Stimme weinerlich. Einen besseren, einen klügeren, einen hübscheren Sohn als Joseph hat keine Frau meinem Vater je geboren. Joseph hin und Joseph her, Joseph hat dies geschafft und jenes erreicht. Selbst die ruinösen Folgen der Dürre hätte dieser Sohn verhindert, behauptet Jakob, einfach weil er schlauer war als alle anderen, weil er die Zukunft besser einschätzen könnte, weil der begabte Junge vorausschauender gewirtschaftet hätte als seine kurzsichtigen Brüder. Und und und. Joseph, das perfekte Menschenkind; ein Unvergleichbarer, mit dem doch alle verglichen werden, nur um als Enttäuschung auszufallen. Ausgerechnet sein Lieblingssohn ist Jakob verloren gegangen. Aber Josephs Schatten geistert beharrlich durch alle Zelte. Wie ein Korsett hat er meinen Kinderjahren die Atemluft abgeschnürt. Immer nur Joseph, Joseph. Als einziger Bruder, der aus demselben Mutterschoß gestoßen worden war wie er, sollte ich in Josephs feine Kleider hineinwachsen, die Jakob aufgehoben hat. Aber ich, Benjamin, bin viel kompakter gebaut als der zierliche, feingliedrige Joseph, und die schwierigen Umstände meiner Geburt hinterließen ein paar unübersehbare Stockungen in meinem Bewegungsapparat. „Sei nicht so täppisch!“ muss ich mir heute noch anhören.

 

Meine Halbbrüder tuscheln sich untereinander zu, dass Jakob mit derselben Affenliebe heute an Benjamin hängt wie damals an Joseph. Für die unterschwelligen Vorwürfe, mit denen Vater mich immer für den Tod meiner Mutter Rahel verantwortlich gemacht hat, haben sie kein Ohr. Es geht ihnen nur darum, mich auf Abstand zu halten. Mein Anblick erinnert sie nicht nur an Joseph, sondern auch an dessen Verschwinden vor vielen Jahren. Ich bin sicher, dass sie daran beteiligt waren, wenn ich auch nicht genau weiß, wie sie den verzärtelten Liebling Jakobs loswurden.

Nur – Was habe ich mit dieser Eifersuchts-Tragödie zu tun? Ich bin doch ich, Benjamin, nicht Joseph. Ich bin nicht so überheblich, auch nicht so verwöhnt wie Jakobs Liebling. Der teure Rock, den Jakob damals seinem Liebling schenkte, jener fein gewobene Stoff, der ihn zu seiner tödlichen Angeberei anstachelte, hätte mir nie gepasst.

 

Da nahmen sie, die Brüder, Josefs Rock und schlachteten einen Ziegenbock und tauchten den Rock ins Blut und schickten den bunten Rock hin und ließen ihn ihrem Vater bringen und sagen: Diesen haben wir gefunden; sieh, ob's deines Sohnes Rock sei oder nicht.

Er erkannte ihn aber und sprach: Es ist meines Sohnes Rock; ein böses Tier hat ihn gefressen, zerrissen, zerrissen ist Josef!

Und Jakob zerriss seine Kleider und legte ein härenes Tuch um seine Lenden und trug Leid um seinen Sohn lange Zeit. (Gen 37, 31-34)

 

Vor uns taucht die Sonnenstadt auf. Endlich! Noch bevor wir durch ihre Tore reiten, stürmen ein paar Uniformierte auf uns zu. Wir werden in eine Gruppe Esel und eine Gruppe von Zweibeinern aufgeteilt. Dann müssen die Zweibeiner sich in einer Reihe hintereinander aufstellen. Ein Ägypter schreitet die Anordnung ab, um hier und da einen Jakobssohn herauszuzerren und an einen anderen Platz zu stellen. Juda, der sich wieder mal dicht hinter mich gedrängt hat, muss sich weiter nach hinten schieben lassen. Am Ende des Spektakels stehe ich ganz vorn, und Ruben, unser Ältester, ist der letzte in der Reihe. Dann zieht einer der Uniformierten mich von meinen Halbbrüdern weg und führt mich in Richtung eines prächtigen Hauses. Ob er mich, ausgerechnet mich, für den Wortführer hält? Nie im Leben habe ich Getreidepreise ausgehandelt! Als ich mich hilfesuchend nach meinem Bruder Juda umschaue, stoßen wie er auch alle anderen Jakobsöhne ihre Bewacher von sich und rennen uns nach.

Mit dem Hausverwalter wollen sie sprechen, jawohl, dem Hausverwalter! Als sei das ein guter Bekannter von ihnen. Zu meinem Erstaunen taucht tatsächlich ein vornehm gekleideter Ägypter auf, und streckt Ruben, unserem ältesten Bruder, freundschaftlich eine Hand entgegen. Er kauderwelscht, wir sollten uns wegen des Geldes, das meine Brüder nach ihrem vorigen Einkauf unverhofft wieder in ihren Säcken fanden, keine Sorgen machen. Und nein, hier verdächtige niemand die Söhne Jakobs eines Diebstahls oder einer Veruntreuung. Erst recht wolle niemand ihre Esel konfiszieren oder sie selbst gar zu Sklaven machen! „Fürchtet euch nicht!“ ermutigt uns jemand in akzentfreiem Hebräisch. Ich traue meinen Augen kaum. Vor uns steht Simeon, die Geisel, wohlgenährter und sauberer rasiert als je! Der Hausverwalter schnippt mit einem Finger. Bedienstete tragen Wasserschüsseln herbei und bieten uns an, letzte Staubreste von unseren Füßen zu waschen.

 

Nach diesem fürstlichen Empfang geht uns die appetitliche Anrichtung unserer landestypischen Delikatessen umso leichter von der Hand. Ich bin versucht, mir eine der Mandeln zu schnappen, sie in Honig zu tauchen und zwischen die Lippen zu stecken. Aber Judas strenger Blick ermahnt mich, meine Gelüste zu zügeln. Trotzdem ziehen die Köstlichkeiten mich so intensiv in ihren Bann, dass ich nicht merke, wie der Mensch, dessen unbeugsames Herz sie erweichen sollen, den Raum betritt. Zehn Jakobsöhne sinken dem mächtigen Ägypter vor die Sandalen, um dem Mann ihren Respekt zu zollen. Nur ich Trottel, wieder mal eine Blamage in Person, bin vor dem Würdenträger stehen geblieben wie vor meinesgleichen.

 

Er aber grüßte sie freundlich und sprach: Geht es eurem alten Vater gut, von dem ihr mir sagtet? Lebt er noch? Sie antworteten: Es geht deinem Knechte, unserm Vater, gut und er lebt noch. Und sie verneigten sich und fielen vor ihm nieder. Und er hob seine Augen auf und sah… Benjamin…, und sprach: Ist das euer jüngster Bruder, von dem ihr mir sagtet? Und sprach weiter: Gott sei dir gnädig, mein Sohn! (Gen 43, 27-29)

 

 

Ein Ruck geht durch den Oberkörper des Beamten. Seit wann bringe ich solche Leute zum Erschrecken? Seine Augen werden feucht, als sie mich betrachten, und der stattliche Mann schnappt nach Luft, bevor er sich abwendet und hastig den Saal verlässt. Seltsam, denke ich, aber mehr auch nicht. Als ewiger Nachzügler, als lästiges Anhängsel von Hauptpersonen, bin ich es nicht gewohnt, in den Mittelpunkt gerückt zu werden. Zu viel Aufmerksamkeit ist mir peinlich. Sie macht mich nervös. Als unser Gastgeber mir beim Essen fünf Mal öfter nachlegen lässt als meinen Halbbrüdern, drohe ich mich vor Verlegenheit zu verschlucken, zumal der Ägypter mich pausenlos beobachtet. Verzweifelt stopfe ich exotische Geflügelsorten und all dieses scharfe, überwürzte Gemüse in mich hinein. Am schlimmsten ist der Alkohol. Auch den bin ich nicht gewohnt. Während die anderen immer lustiger werden, fällt mir das Sprechen von Becher zu Becher schwerer. Die ganze Tischgesellschaft verschwimmt in einem Nebelschleier um mich herum, und als endlich die Sonne wieder aufgeht, sitze ich auf meinem Esel und kämpfe gegen das Bedürfnis meines Magens an, sich zu übergeben. Plötzlich hört das Geschaukel auf. Uniformierte haben uns eingeholt. Es sind dieselben wie bei unserer Ankunft, aber aus ihren Gesichtern ist jegliche Freundlichkeit verschwunden. Es hagelt Befehle und Anklagen. „Zeigt Eure Säcke vor!“ schreit jemand. Angeblich haben wir Gutes mit Bösem vergolten. Wie bitte? Was meint er? Angeblich ließ einer von uns den silbernen Becher unseres Gastgebers mitgehen, nachdem das Gelage zu Ende war. Diebstahl? Das geht zu weit. Diesen Vorwurf lassen die Söhne Jakobs nicht auf sich sitzen.

 

Wie sollten wir… aus deines Herrn Hause Silber oder Gold gestohlen haben? Bei wem der Becher gefunden wird unter deinen Knechten, der sei des Todes; dazu wollen auch wir meines Herrn Sklaven sein. (Gen 44, 8f)

 

Ich beteilige mich nicht an dem Schwur. Nach wie vor versucht mein Kopf, letzte Wolken der Trunkenheit aus seinem Horizont zu räumen. Wann und wie bin ich gestern von dem Festgelage weg und auf meinen Esel gekommen? Ich erinnere mich nicht. Hat der aufdringliche Gastgeber mich nicht auch noch genötigt, einen ganz bestimmten, kostbaren Tropfen aus seinem Silberbecher zu kosten? Hat er selbst mir diesen Becher nicht in die Hände gedrückt, weil er mir die Kunst des Wahrsagens beibringen wollte, weil er mir Nachhilfe in zuverlässiger Zukunftsschau geben wollte? Oder habe ich das alles nur geträumt? Jedenfalls bin ich, als die Uniformierten das corpus delicti ausgerechnet aus meinem Getreidesack fischen, nicht halb so verblüfft wie meine Brüder. Schon lange habe ich das Gefühl, weder Herr meines eigenen Willens noch Autor meiner eigenen Geschichte zu sein. Und als wir wie geprügelte Hunde zurück zur Stadt buckeln, in das prächtige Haus unseres Gastgebers, schwant mir allmählich, dass dieser kultivierte, ägyptische Herr nun die letzte Runde eines abgekarteten Spielchens einläuten wird. Oder soll ich es Pädagogik nennen? Prüfung? Meine Brüder verlieren fast den Verstand. Juda, der sonst nie von Gott redet, sagt, dass nicht etwa der bestohlene Gastgeber ihre Schuld aufgedeckt habe, sondern Gott höchst persönlich. Er schreit, er weint geradezu. Ruben schließlich spricht endlich aus, was wie ein dunkler Schatten über der gesamten Reise gehangen hat:

 

Das haben wir an unserem Bruder verschuldet! Denn wir sahen die Angst seiner Seele, als er uns anflehte, und wir wollten ihn nicht erhören; darum kommt nun diese Trübsal über uns. (Gen 42, 21)

 

Es geht nicht um einen Becher. Es geht auch nicht um Benjamin, dem ein handfester Diebstahl in die Schuhe geschoben wurde. Wie so oft in unserer Familiengeschichte dreht sich mal wieder alles um Joseph. Was immer meine Halbbrüder verbrochen haben, um den verhätschelten Liebling unseres Vaters loszuwerden: Josephs Schatten verfolgt sie bis heute. Obwohl ich mich eigentlich nicht länger in diese Tragödie einbinden lassen will, werde auch ich ihre Fesseln nicht los. Ich bin Benjamin. Ich habe meine eigene Geschichte, aber die will niemand hören. Jetzt bieten meine verzweifelten Brüder ihrem strengen Ankläger unser aller Sklavendienste an. Aber davon will dieser Mensch, ein Vorbild an Großmut, selbstredend nichts wissen.

 

Er aber sprach: Das sei ferne von mir, solches zu tun! Der, bei dem der Becher gefunden ist, soll mein Sklave sein; ihr aber zieht hinauf mit Frieden zu eurem Vater.

(Gen 44, 17)

 

Der Mann hat es von Anfang an auf mich abgesehen gehabt, nur auf mich. Warum werde ich trotzdem den Verdacht nicht los, von ihm nur benutzt zu werden – für etwas ganz anderes? Benjamin musste nach Ägypten reisen, als Lockvogel für unseren Vater, ja für unsere ganze Sippe. Nur im fruchtbaren Ausland hat Israel Zukunft. Um zu überleben, muss unsere Familie der Dürre entfliehen.

 

Um die offenkundigsten Zeichen der Zeit zu erkennen, muss niemand in silbernen Bechern lesen. Und um zu verhindern, dass die Söhne Jakobs noch einmal ohne einen ihrer Brüder nach Hause kommen, braucht Juda eigentlich auch nicht noch einmal an Jakobs Kummer zu erinnern. Aber er besteht auf seinem großen Auftritt.

 

Da sprach dein Knecht, mein Vater, zu uns: Ihr wisst, dass mir meine Frau zwei Söhne geboren hat;

der eine ist von mir gegangen, und ich habe gesagt: Er ist gewiss zerrissen. Und ich habe ihn seitdem nicht gesehen. Werdet ihr diesen auch von mir nehmen und widerfährt ihm ein Unfall, so werdet ihr meine grauen Haare mit Jammer hinunter in die Grube bringen.

Nun, wenn ich heimkäme zu deinem Knecht, meinem Vater, und der Knabe wäre nicht mit uns, an dem er mit ganzer Seele hängt, so wird's geschehen, dass er stirbt, wenn er sieht, dass der Knabe nicht da ist.

(Gen 44, 27-31)

 

„Ich bin Joseph“! Der Ägypter hat in akzentfreies Hebräisch gewechselt, wohl um seine ungeheure Behauptung glaubwürdiger klingen zu lassen. Es folgt eine Schrecksekunde. Im Nebenraum rollt ein Becher über die Fliesen. Dann löst sich die Spannung. Der ganze Audienzsaal schluchzt, jammert und weint. Elf Jakobsöhne fallen sich um die Hälse und heulen. Muss ich jetzt mitweinen? Eigentlich ist mir doch zum Lachen! Ratlos stehe ich daneben. Es ist das erste Mal, dass ich meine Brüder so unbeherrscht sehe. Ihre Erleichterung lässt mich ahnen, welches Gewicht ihnen bis dato die Mundwinkel herunter gezogen hat, welche Last ihre Schritte beschwert hat. Krumm und schief hat es sie gemacht, dieses Gewicht, das ihnen Joseph nun abnimmt. Die Erleichterung der Versöhnung reicht bis in meinen Brustkorb und umflattert mein Herz. Denn dieser Mann, dieser Hebräer, der dann ja dieselbe Mutter hat wie ich, hat längst auch seinen kleinen Bruder an seine Brust gedrückt. Ich kann nicht anders. Ich muss mitweinen. Aber ich ahne, es wird noch eine Weile dauern, bis ich mein eigenes Leben zu leben lerne.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
Anouar Brahem, Le Voyage de Sahar