Mutter und Kind im Sonnenuntergang am Strand
Gemeinfrei via pixabay.com/ Mojpe
Evas drittes Kind
Wie die Urfamilie alles besser machen wollte
06.09.2020 07:05
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Set will kommen. Zwei, drei Sonnenuntergänge noch, dann wird unser Sohn die Zeltplane zur Hütte seiner Kindheit zur Seite schieben. „Da bin ich!“ wird er sagen, mit der kontrollierten Stimme eines selbstbeherrschten, erwachsenen Mannes. Oder soll ich es „kaltherzig“ nennen? Sein Kindergesicht hat sich immer tiefer in seinen Bart zurückgezogen. Wenn dieser Zottelkopf mir auf einer fremden Straße in einer fremden Stadt einen Gruß zunickte, würde ich ihn nicht erkennen. Aber seine Hände sind mir vertraut geblieben, genauso wie ein leuchtender Punkt in seinen Augen. Er wird mir wieder verraten, was Set sich nicht anmerken lassen will: wie sehnsüchtig er dem Wiedersehen mit seinen Eltern entgegengefiebert hat.

 

Set kommt und noch bevor der junge Herr über die Grasnarbe tritt, zieht Nervosität in unser Zelt ein. Wie jedes Jahr hat unser Sohn einen Boten vorausgeschickt, um uns auf seine Ankunft vorzubereiten. Seit der Bursche die Nachricht neben meinem Mann im Zelt stehen ließ, wackelt Adam in allen Gelenken. Er zittert, trippelt und tänzelt von einer Stunde zur nächsten, während ich unsere Vorräte nach verwertbarer Nahrung durchstöbere. Denn jeder Sohn erwartet von seiner Mutter, dass sie ihm seine Leibspeise kocht. Das Leuchten in seinen Augen würde auf der Stelle erlöschen, wenn seine letzten Schritte vor dem Zelt seiner Kindheit nicht von den Schwaden seines Lieblingsgerichts umwölkt würden. Das Festessen gehört zu unseren Familienritualen. Adam schleppt Getränke herbei und wird unserem Sohn immer wieder nachschenken. Vater und Mutter tragen eine Köstlichkeit nach der anderen auf. Alles exklusiv; exklusiv für Set.

 

Adam erkannte abermals seine Frau, und sie gebar einen Sohn, den nannte sie Set: „Denn Gott hat mir einen andern Sohn gegeben für Abel, den Kain erschlagen hat.“ Und auch dem Set wurde ein Sohn geboren, den nannte er Enosch. (Gen 4,25f)

 

Mein Mann wollte damals kein drittes Kind. Niemand könne Abel ersetzen, herrschte er mich an, wann immer ich meine Verführungskünste ausspielen wollte. Meine Fingerspitzen drehten Adams Haare an allen Körperteilen, die sie erreichen konnten, zu einer Locke. Es kitzelte, es juckte und piekte, und diese Reizungen hatten früher immer seine Männlichkeit angestachelt. Aber nach Abels Tod wurde alles anders, auch unser Liebesleben. Adam verbringt immer mehr Stunden auf seinen Feldern. Er trägt Staub vom Acker in unsere Behausung, zusammen mit seinem Schweißgeruch und etlichen Kratzern auf seinen Händen. Dichter und dichter ist das Gestrüpp geworden, das er mit nackten Fingern aus der Erde graben muss, bevor er mit neuen Setzlingen anfangen kann. Aber trotz der ganzen Plackerei bringt der Boden immer weniger Ertrag. „Es ist der Fluch!“ murmelt Adam sich manchmal in seinen Bart, nachdem er sich einen Dorn aus der Fußsohle gezogen hat. Ich weiß, was er damit meint. Aber ich akzeptiere die Erklärung nicht. „Unsinn!“ antworte ich jedes Mal wie unter Zwang. Ich will nicht an magische Verwünschungen glauben. Ich will nicht glauben, dass wir Menschenkinder unser Schicksal nicht steuern können, dass wir dem Bösen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Und dass die Erde ihr Maul aufsperren, dass sie aus Rache rissig werden kann, um einem Bauer die Untat heimzuzahlen, die einen Schäfer das Leben kostete, glaube ich erst recht nicht. Die Sache liegt viel einfacher. „Wir haben bei unseren Kindern Fehler gemacht, das ist alles“, behaupte ich, und Adams bittere Linien zwischen Nase und Mund vertiefen sich.

 

Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mithilfe des HERRN. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick (Gen 4,1-5).

 

Ich war nicht dabei. Ich bin kein Augenzeuge des Mordes gewesen. Aber als meine beiden Söhne ihre Opfer aufs Feuer legten, stand ich daneben. Sehr wohl habe ich mitbekommen, wie beleidigt Kain seine Unterlippe fallen ließ, wie grimmig und wütend er in seinem mickrigen Feuerchen herumstocherte, wie jähzornig er schließlich auf seinem Gemüse herumtrampelte, das er dem Himmel so stolz präsentiert hatte. Während seiner angestrengten Bemühungen um Gottes Gunst schlängelte sich der Rauch vom Feuer seines Bruders unauffällig zum Himmel. Erst, als Abels Qualm sich zu einem Schlauch verdichtet hatte, als er sich kerzengerade aufrichtete, um sich wie eine Siegessäule zwischen Abels Opferfleisch und den Wolken aufzubauen, kapitulierte Kain restlos. Keine Chance. Er weigerte sich, neben Abel das Schauspiel zu bestaunen. Statt seinen Blick der Rauchsäule nach zu schicken, vergrub er seine Augen im Boden zu seinen Füßen.

 

Später hat meine Frau mir Vorwürfe gemacht, weil ich Kain nicht getröstet habe. In dem Moment, als Abel alle Aufmerksamkeit des Himmels erhaschte, hätte ich Kain in die Arme nehmen müssen, meinte sie. „Nächstes Mal bist du wieder dran…“ – irgend so ein Spruch hätte mir einfallen sollen. Oder ein einfaches Schulterklopfen nach dem Motto: „Mach dir nichts draus, deine Feldfrüchte schmecken trotzdem köstlich.“ Schon ein Wimpernschlag Teilnahme hätte genügt, um ein großes Unglück zu verhindern, meinte Eva. Was tat ich stattdessen? Ich tanzte neben Abel um seine Rauchsäule herum und klatschte vor Freude in beide Hände. Was für eine Überraschung! Endlich mal ein Erfolgserlebnis für unseren jüngeren Sohn! Ich lachte und jubelte mit Abel. Hatte er es nicht verdient, dass seine Familie eine der wenigen Sternstunden mit ihm feierte, die das Leben für ihn bereithielt? Später tadelte mich Eva. Wir hätten Kain zu unserem Freudenfest einladen sollen. Genau das hatten wir versucht. Aber Kain fand unsere Tanzerei albern und drehte seinen Kopf eine gefühlte Ewigkeit lang von der linken auf die rechte Seite.

 

Unser Ältester war es eben nicht gewohnt, an den Rand eines Geschehens geschoben zu werden, in dem ausgerechnet sein kleiner Bruder den Mittelpunkt erobert hatte. Als Erstgeborener war er es, Kain, der ins Zentrum gehörte! Seine Geburt war die schwerere gewesen. Entsprechend verhätschelt hatte seine Mutter den kleinen Mann, den sie da zur Welt gebracht hatte. Dass ein Hoffnungsträger wie er eine Sache angefangen, dann aber nicht ordentlich zu Ende gebracht hatte, war Kain bis dato so gut wie nie passiert. Seine Saaten waren stets aufgegangen, seine Ernten entsprachen dem Fleiß, den er für das Getreide aufgewendet hatte. Dass Gott plötzlich über die vegetarischen Speisen, die er so sorgsam für ihn zusammengestellt hatte, die Nase rümpfte, fasste Kain als Beleidigung auf. Er verstand nicht, warum der Himmel ihn gedemütigt hatte. Er begriff nicht, was er falsch und was Abel besser gemacht hatte als er. Erst recht sah er nicht ein, dass es beim Opfer weder auf gutes, noch falsches Verhalten ankam. Für ihn war das Leben ein einziger Wettbewerb, ein unermüdliches Ringen, und er, der Erstgeborene, hatte das Gewinnen abonniert. An Abels Stelle hätte er sich nicht einfach über Gottes Gunst gefreut, sondern die Arme hochgerissen und triumphiert. Er hätte sich nicht zu albernen Bocksprüngen hinreißen lassen, sondern sein edles Haupt zu uns niedergebeugt, um sich als Sieger krönen zu lassen. Und natürlich hätte Kain, wenn er als Abel geboren wäre, sich nicht die Bohne darüber gewundert, dass der zweite Sieger im Kampf um Anerkennung aus der Arena schlich, als wäre er ein Verlierer.

 

Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan?

(Gen 4,8-12)

 

Das letzte Wort, das ich von Kain gehört habe, war ein Witz. „Soll ich meines Bruders Hüter sein“? antwortete er, als ich ihn fragte, wo er denn seinen Bruder gelassen habe. Schulterzucken. „Seit wann braucht der Schäfer einen Hirten“? Ich glaube, ich habe sogar gelacht. Wie schlagfertig mein großer Sohn sein konnte! Dass etwas ganz anderes dahintersteckte, durchschaute ich nicht. Mit seiner Ironie wollte Kain nur die Stimme in seinem Kopf übertönen, die beharrlich fragte: „Was hast du getan?“

Aber ich blickte nicht hinter die Kulissen. Ich wunderte mich nur, dass er mich plötzlich in den Arm nahm. Was war denn los mit ihm? Zärtliche Gesten sind in unserer Familie nicht üblich. Kains Gesicht lag auf meiner Schulter. Dort hatte es zuletzt gelegen, als er Kind war! Dann schluchzte er kurz auf, wie es sonst eigentlich nur Abel passierte. Schließlich riss mein Großer sich los, schob die Zeltplane zur Seite und verließ die Hütte seiner Kindheit. Er kam nie zurück.

 

Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. Kain sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. Gen 4, 11-14.16

 

Diese endlose Nacht. Dieses Warten auf Schritte, die ich schon von Weitem als die Schritte meines Kindes erkenne. Dieselbe Anspannung hat mir beim Warten auf Kain den Schlaf geraubt. Aber jetzt geht es weder um Kain, noch um Abel. Set müsste längst am Rand unserer Felder aufgetaucht sein; ein winziger Punkt am Horizont, der mit jedem Atemzug deutlichere menschliche Konturen annimmt. Mein Mann und ich starren in die Dunkelheit und reden uns ein, dass der jeweils andere schläft, und dass wir ihn nicht stören wollen. In Wirklichkeit haben wir uns nur diesen einen Satz noch zu sagen: „Da kommt Set!“ Nur dieser Satz ist noch in der Lage, das versteinerte Schweigen zwischen uns zu brechen. Nur diese Hoffnung gibt uns Kraft, am Morgen aufzustehen.

 

Die wenigen Tage, die unser Sohn jedes Jahr seine Wanderungen unterbricht, um Zeit mit uns zu verbringen, kommen mir vor wie ein Ausflug ins Paradies; eine Stippvisite in einer Zeit, die sich auch ohne Feldarbeit, ohne Kochen und Backen erfüllt anfühlt. Ich male mir eine Szene aus, die Adam als „idyllisch“ verspottet. Nichts als harmonisches Beisammensein: Set sitzt zwischen seinen Eltern, rundum aufmerksam und gut gelaunt. Ohne Aufforderung erzählt er, welche Abenteuer er auf seinen Märschen jenseits von Eden zu bestehen hatte. Und dann – „Überraschung!“ Endlich verrät er seinen Eltern den Namen seiner Frau. Bislang hat Set immer abgewunken, sobald es ums Heiraten ging, und Adam puffte mir in die Seite, weil ich nicht aufhören konnte, Set aus der Reserve zu locken. „Du darfst nicht so neugierig sein!“ Aber natürlich bin ich neugierig, welchen Typ Frau mein Sprössling sich aussuchen wird. Ich freue mich auf den Tag, an dem seine kleine Familie zu uns kommen und mich bitten wird, unserem Enkel einen Namen zu geben. Und mein Mann soll nicht so scheinheilig einen Vater mimen, der nicht Tag und Nacht an die Zukunft dächte. Wir warten auf eine neue Generation, Adam und ich. Wir wollen noch einmal versuchen, unsere Nachkommen nicht als Rivalen aufwachsen zu lassen. Bei den Enkeln wollen wir es besser machen als bei unseren Söhnen.

 

Ich habe meiner Frau nie gesagt, wie Kain seinen Bruder zugerichtet hat. Abel war kaum zu erkennen, als ich seine Leiche fand; eine deformierte Hülle um die Fleisch gewordene Vergänglichkeit, mehr war nicht übrig geblieben. Offensichtlich war der tödliche Schlag von hinten auf seinen Schädel gekracht. Überall Blut. Anscheinend hatte Kain weiter auf seinen Bruder eingedroschen, immer weiter und heftiger, obwohl Abel sein Leben längst ausgehaucht hatte. So viel Hass. So viel Kränkung. So viel unkontrollierte Kraft. „Was hast du getan?“ Ich erwartete eine Ausrede, wie Kain sie immer erfunden hatte, wenn er bei einem Streich erwischt wurde: Dass nicht er es gewesen sei, der Streit gesucht hatte, sondern Abel. Oder dass Abel, weil er sich nicht wehrte, ihn mit seiner Passivität maßlos provoziert habe, so dass er von einem bestimmten Zeitpunkt an einfach nicht mehr aufhören konnte. Zu meinem Erstaunen suchte Kain keine Ausflüchte. Er wusste, was er getan hatte. Und er machte sich kleiner, als sein kleiner Bruder je aufgetreten war. Wie ein Kleinkind wimmerte und jammerte er herum. Zu groß, zu mächtig sei seine Schuld. Statt künftig herumzuirren und immer neue Unterschlüpfe für seine müden Knochen suchen zu müssen, wolle er sich lieber umbringen. Wie ernst ihm der Plan zum Selbstmord war, konnte ich nicht herausfinden. Ich bin auch nicht sicher, ob ich versucht hätte, ihm die Idee auszureden. „Geh mir aus den Augen!“ herrschte ich ihn an. „Verschwinde von meinem Boden“ Das hat er getan.

 

 

 

 

Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick?

Ist's nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie (Gen 4,6f).

 

Es ist soweit. Set ist gekommen. Die Hand, die unsere Plane vom Zelteingang schob, habe ich sofort erkannt. Sein Zottelkopf war sichtlich gestutzt worden. Da wurde mir klar, dass ich, was die Zukunft betraf, die richtige Ahnung gehabt hatte. Nach einigem Bohren gibt unser Sohn zu, dass er geheiratet hat. Nun gilt es, nicht sofort überschwänglich zu werden. Adam legt den Zeigefinger auf seine Lippen. Das Signal ist eindeutig. „Bloß nicht mit den Kindern anfangen, auf die du dich so freust!“ Mein Mutterherz besteht diese Herausforderung nicht. Gerade will ich herausplatzen, dass ich meinem ersten Enkel gern seinen Namen geben würde. Wie ich das bei unseren Söhnen getan habe: Den Ersten habe ich einen „Mann“ genannt, Kain; den zweiten einen „Windhauch“, Abel… Da unterbricht Set die Ansprüche an die Tradition. „Eines will ich euch gleich sagen: Den Namen meiner Kinder gebe ich ihnen selbst“. Kein Mann, kein Windhauch, kein Ersatz für einen Verlorenen. Wenn es ein Junge wird, wird er Enosch heißen!

 

Ein neuer Mensch. Neue Chance für uns alle.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

Maurice Ravel, Streichquartett in F

Alban Berg, Lyrische Suite

Alban Berg Quartett (CD Box „Hommage“)