Meine Tochter packt die Krippenfiguren aus den Schachteln und bläst den Staub des vergangenen Jahres von Maria. Dann setzt sie die Gottesmutter mit ihrem Baby ins Zentrum einer kleinen Gesellschaft von Hirten, Weisen und Schafen. Ein riesiger Strohstern über Mutter und Kind, an den Rändern längst ausgefranst, stellt alle anderen Figuren in seinen Schatten. Ein Plüschkamel blickt verlegen in die Gegend, so als wüsste es genau, dass es die klassische Weihnachtskulisse sprengt. Aber fehlt da nicht jemand im Stall von Bethlehem?
Ausgerechnet Joseph, ausgerechnet der Mann, der das Krippenkind seinen Sohn genannt hat, ist nirgends zu sehen. Die Figur liegt vergessen auf dem Speicher, zwei Etagen vom Weihnachtsgeschehen getrennt. „Wo ist Joseph?“ Mir ist, als hätte Maria persönlich diese Frage gestellt. „Wo ist eigentlich mein Mann?“
Sofort verkrampft sich das hölzerne Lächeln der Hirten. Die Schafe weiden sich in vorgetäuschter Unschuld, und das unpassende Plüschkamel bleckt seine unpassenden Plüschzähne. Meine Ex-Ehefrau weist mit ihrem Zeigefinger auf die Lücke hinter Maria und ich werde das Gefühl nicht los, dass dieser Fingerzeig mir gilt, und dass er einen Vorwurf auf den Punkt bringt, der unausgesprochen durch das Weihnachtszimmer schwebt. Wo ist Joseph? Wo ist der Vater?
Joseph war ein Träumer. Nächtliche Kopfgeburten brachten stets etwas hinter seiner Stirn in Bewegung, etwas Unberechenbares. Anfangs hatte Maria gehofft, er werde es sich mit der Reise noch einmal anders überlegen. Eine Wanderung mit dem Säugling, so kurz nach der Geburt? Das konnte doch nur eine fixe Idee sein. Erst hatte der Mann sich geweigert, auch nur einen Schritt aus diesem öden Bethlehem zu wagen, jetzt wollte er sie gleich nach Ägypten schleppen. Maria war wütend. Hektisch sortierte sie die Gegenstände aus ihrem Haushalt, warf eine Auswahl in ihren Kleidersack, bevor sie sie Kästchen für Kästchen, Bündel für Bündel wieder herausfischte.
So anständig, wie Joseph sie behandelt hatte, glaubte sie es ihm schuldig zu sein, sich seinem Willen zu fügen, auch wenn sie seinen Plan irrsinnig und gefährlich fand. Joseph hatte sich großherziger gezeigt, als sie für möglich gehalten hatte. Jeder andere hätte ihre Verlobung stillschweigend aufgelöst und sie in ihr Elternhaus zurückgeschickt. Was für ein Skandal: Schwanger war sie, und dass das Kind nicht von ihrem Verlobten war, brauchte sie ihm nicht erst zu erklären. Und Joseph? Er fragte nicht mal, was jeder Mann in seiner Situation wissen wollte: „Wer ist der Vater?“ Joseph fragte sie das nicht. „Das Kind braucht einen Namen, und es bekommt, was es braucht: Einen Vater!“ Mehr sagte er nicht. Am liebsten hätte Maria ihn für diesen Satz umarmt. Aber Joseph war kein Mann für Gefühlsausbrüche. Sie traute sich kaum, seine Hand zu drücken.
Mittlerweile fühlte sie sich von seiner zurückhaltenden Art ein wenig verletzt. Sofort hatte er angeboten, in einem anderen Bett zu übernachten als sie.
„Damit dem Kind nichts passiert“, hatte er ihr erklärt, und sich ganz rasch aus Marias fragendem Blick geschält. Also war ihre Hochzeitsnacht ausgefallen. Irgendwann war Maria der Verdacht gekommen, dass ihr Ehemann zwar gut und gerecht, aber ein Mensch ohne Zärtlichkeit war, ein Mann ohne Leidenschaft.
Seit ich vor ein paar Jahren in mein eigenes Apartment gezogen bin, fühle ich mich aus dem Bündnis von Mutter und Tochter ausgeschlossen. Während draußen weihnachtliche Waffenruhe die Straßen entvölkert, nimmt eine aggressive Stimmung unser Wohnzimmer in Beschlag. „Joseph?“ prustet meine Tochter, und bläst die Backen auf wie ein Weihnachtsengel. „Wer ist Joseph?“ Ihre Mutter kichert Applaus. Dann verschiebt sie die Krippenfiguren, um die Lücke hinter Maria mit einem Hirten zu füllen. Der Vater des Krippenkindes scheint also auswechselbar. Wie dieser Schäfer sich selbstbewusst auf seinen Stab stützt, wie sein Gewand sich um die knochige Hüfte bauscht und seine Oberschenkel freilegt, macht er eine verdammt gute Figur.
Joseph war traditionsbewusst. Schon als Kind konnte er die lange Reihe seiner Ahnen auswendig aufsagen. Auch König David gehörte in direkter Linie zu seinen Vorfahren, und darauf war Joseph besonders stolz. Davids Geburtsort war Josephs Geburtsort, und hier, in Betlehem, sollte auch sein Sohn Jesus zur Welt kommen. Maria dagegen war nur ungern nach Bethlehem gezogen. Sie fand die kleine Stadt langweilig und litt unter dem Getuschel ihrer Nachbarinnen. Sie ließ sich auch nicht von Josephs Bemerkung umstimmen, dass immerhin der Messias aus diesem Ort kommen sollte, der folglich nicht so öde sein könne, wie sie behauptete. „Was in aller Welt suchst du plötzlich in Ägypten?“ regte sich Maria auf.
Er zuckte die Achseln. Die Entscheidung des Familien-Vorstands, fand der Vorstand, musste keineswegs begründet, sondern schlicht befolgt werden. Joseph war überzeugt, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten. Die aber signalisierten keine sichere Zukunft. Aus dem Besuch von drei überaus vornehmen Herren aus einem fernen Land, von dem ganz Bethlehem immer noch redete, schloss er Gefahr. Maria hatte diesen Besuch genossen. Die prächtig gekleideten Männer hatten einen Hauch Weltstadt, eine Ahnung von globaler Bedeutsamkeit in die Stadt gebracht. Sie waren aus weiter Ferne angereist, um eine kleine Familie zu ehren, über die man sich in Bethlehem bislang nur die Mäuler zerrissen hatte. Und was für Geschenke sie Maria für ihren Sohn überreicht hatten! Königliche Geschenke, hieß es. Plötzlich erstarrte den Nachbarn ihre Häme in den Gesichtern. Maria wurde mit einer kleinen Verbeugung gegrüßt. Wäre das nicht ein Anfang gewesen? Ausgerechnet jetzt wollte ihr Mann aus dieser Stadt fort ziehen, jetzt, da sie gerade begonnen hatte, sich in Bethlehem einzugewöhnen.
Es half nichts. Joseph drängte zum Aufbruch. Der Besuch der drei fremden Männer habe seine schlimmsten Albträume bestätigt, sagte er. Sie müssten fliehen. Basta!
Altmodische rote Kugeln, moderne silberne Kugeln und die goldenen Trompeten aus meiner Kindheit: Wie eh und je bereichert der Festtagsschmuck das ewige Durcheinander des Dachbodens. Für den Ausbau des Giebels hat unsere Ehe nicht mehr gereicht. Der Raum ist eine Rumpelkammer geblieben, ein Chaos aus unerfüllten Träumen und aufgeschobenen Vorsätzen. Dort oben fahnde ich nach dem vergessenen Joseph. Sein Karton liegt etwas abseits der anderen Pappschachteln, neben ein paar ausgedienten Spielzeugen. Wer immer den Vater Jesu hier konserviert hat, muss sich um seine filigranen Konturen gesorgt haben, einen geschnitzten, knielangen Umhang. Alt sieht er nicht aus. Mit eher jugendlichen Gesichtszügen beugt er sich herunter, dorthin, wo Maria und ihr Kind stehen müssten. Seine Stirn liegt in Falten. Dieser Joseph macht sich Sorgen um die Zukunft. Immer wenn er sich mit seinem krummen Rücken zu dem Kind in der Krippe hinab neigt, tauchen die Bilder einer ganz bestimmten Gefahr vor seinem inneren Auge auf.
Niemals, nie im Leben hätte Maria sich das träumen lassen: Dass sie sich eines stürmischen Tages nach Bethlehems Enge zurücksehnen würde. Während des wochenlangen Geschaukels auf dem Eselsrücken wünschte sie sich in das Haus und ihr einsames, stilles Schlafzimmer zurück.
Angesichts von gehetzten, furchtsamen Gesichtern von Frauen, die wie Maria ihre Säuglinge fest vor Brust und Bauch geschnallt hielten, hatten die Fratzen ihrer judäischen Nachbarinnen harmlos ausgesehen. Eine „elementare Erfahrung“ nannte sie das später: ihre Nervenzusammenbrüche, Erstickungsanfälle; eine Erschöpfung, die ihre Hände und Füße zusammenkrampfte. Dazu die Ängste, Albträume und Halluzinationen, die ihren Mann Nacht für Nacht heimsuchten. „Aus Ägypten!“ hatte Joseph im Schlaf gemurmelt, manchmal geschrien. „Aus Ägypten rief ich meinen Sohn!“ Das einzige, was sie über diesen Zustand ihres Gefährten trösten konnte, war seine unerschütterliche Loyalität gegenüber dem Kind, Josephs deutliches, unverhohlenes „mein Sohn“ auch wenn sie kurz vor seinem Aufwachen nicht mehr sicher war, ob ihr Mann damit den kleinen Jesus gemeint hatte, oder nicht doch den großen Mose.
Vor welchem Schicksal die Emigration sie bewahrt hatte, erfuhren Maria und Joseph von anderen Flüchtlingen. Während der Esel die kleine Familie durch die Wüste in Sicherheit trug, hatte sich eine Katastrophe über Bethlehem gesenkt. Die Soldaten des Herodes waren ausgeschwärmt, um den Müttern ihre Kinder aus den Armen zu reißen und brutal zu töten. Befehl des Königs! Kein Knabe unter zwei Jahren sollte überleben. Das war die Gefahr gewesen, von der Joseph geträumt hätte. Diesem Blutbad wollte er rechtzeitig entkommen. Darum hatte er Maria zur Eile angetrieben und sich von keinem ihrer Gegenargumente beirren lassen. Wie so oft war er der Warnung seiner nächtlichen Eingebungen gefolgt und vor der mörderischen Horde geflohen, bevor sie seine Vaterstadt in einem Meer aus Blut und Tränen versenkte. Das Weinen und Wehklagen aller Eltern, deren Söhnchen nicht verschont wurden, echote durch jeden Traum, der ihn nach Ägypten begleitete, Nacht für Nacht.
Hätte er die anderen nicht warnen müssen? Hätte Joseph, statt sich heimlich aus dem Staub zu machen, die Männer seiner Heimatstadt nicht zu einer Bürgerwehr mobilisieren sollen?
Sobald Maria solche Zweifel an seiner Entscheidung andeutete, wehrte er ab. „Die anderen hätten mir sowieso kein Wort geglaubt“, entgegnete er. „Die graben doch allen Geheimnissen das Wasser ab und verlangen Beweise“.
Seit dem Massaker war es jedenfalls vorbei mit dem Ruhm von Bethlehem. Niemand sprach mehr von einem Messias in den Fußspuren des großen Königs David, seit der Boden seiner Vaterstadt vom Blut ermordeter Kinder getränkt worden war. Bethlehem hatte seinen Frieden und seine Hoffnung verloren. Auch Maria und Joseph zogen nie in die Davidstadt zurück.
Als der mörderische Diktator nach Jahren gestorben und die Gefahr vorbei war, brach Joseph wieder in Richtung Heimat auf. Er nahm das Kind und seine Mutter mit sich, und zog geradewegs in den Norden Israels, nach Nazareth in Galiläa.
Kurz vor der Bescherung ist in der Weihnachtskrippe alles wieder in Ordnung. Ein entschlossener, weitblickender Gottesvater, aus seinem unfreiwilligen Exil auf dem Dachboden zurückgekehrt, behauptet seinen angestammten Platz hinter Mutter und Kind. Selbst der freche Hirte, den ich zu seinem Schaf zurückgejagt habe, macht einen erleichterten Eindruck. Merkwürdigerweise scheint unsere Tochter auf diese Korrektur gewartet zu haben wie früher aufs Christkind. Ich erwische sie bei einem verschämten Lächeln. Mehr kann man von einem pubertierenden Trotzkopf kaum erwarten. Sie schiebt die Figuren noch ein bisschen hin, ein bisschen her; rückt den stehenden Joseph ganz nah an die sitzende Maria. Zusammen mit der Krippe bilden sie die Winkel eines Dreiecks, einer Insel, eines Bollwerks. Der heimliche Traum jedes Scheidungskinds ist inszeniert. Keine heile, aber eine reparierte Familie rückt unter dem Krippendach zusammen.
Meine Ex-Frau schluckt, und auch mir steckt ein dicker Kloss im Halse. Wenigstens am Heiligabend, so haben wir es uns bei unserer Trennung geschworen, darf unsere Tochter ungestört träumen, wenn sie es will, und zwar jeden, auch den unerfüllbarsten Traum.
Maria und Joseph brauchten die große Reise in die Fremde um glücklich zu werden. Wer immer ihr Haus in Nazareth aufsuchte, begegnete dort einem vollkommen entspannten Ehepaar. Keine hektischen Bewegungen, keine spitzen Bemerkungen mehr. Kein Basta. Maria war wieder schwanger. Joseph schlief jede Nacht tief und fest und vollkommen traumlos neben ihr ein. In Nazareth engten auch keine vorgeformten Hoffnungen, keine überlieferten Erwartungen ihr Leben ein.
Niemand forschte in den geheimsten Winkeln ihrer Ehe herum, niemand stellte die Frage „Wer ist eigentlich der Vater Jesus?“, niemand riss alte Wunden auf, und niemand äußerte Zweifel oder gar Vorwürfe, die Joseph selbst nie über seine Lippen gebracht hatte. Irgendwann war er selbst auch Marias wirklicher Ehemann geworden. Die beiden hatten ihre Hochzeitsnacht nachgeholt. Es war in der Wüste passiert, in einer dieser bitterkalten Nächte unter freiem Himmel waren die zwei endlich ganz nah zueinander gerückt. „Schon wegen der Wärme!“ hatte Joseph geflüstert und wieder mal das Baby gemeint. Ihr Kind sollte bekommen, was es brauchte: Wärme. Maria hatte gekichert und „Ja“ gesagt.