Rembrandt (1634): Christ and his Disciples in Gethsemane
Annehmen und Abwarten
Der passive Jesus
15.03.2020 07:35
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„Lasst uns gehen!“ hat er zu seinen Jüngern gesagt. Dabei klatschte er, dicht vor ihren Ohren, schallend in seine Hände. So jedenfalls berichtet es Petrus. Er muss sich mächtig erschrocken haben. „Jesus klatschte, als hätte er uns ohrfeigen wollen“, schmollt er, und sein Kollege Johannes beschwichtigt: „… aber nur, damit wir uns endlich aufrappelten! Jesus duldet eben keinen Stillstand, keine Zögerlichkeiten!“

Da muss ich ihm Recht geben. Aktivisten wie uns steht es nicht zu, in Oasen Wurzeln zu schlagen. Wir müssen die Mühseligen und Beladenen erfrischen, bevor sie verdursten. Wer sich solche gewaltigen Ziele setzt, hat keine Zeit zu vertrödeln.

Aber: Es war das letzte Mal, dass ich Jesus so erlebt habe.

 

Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane, und sprach zu den Jüngern: Setzt euch hierher, solange ich dorthin gehe und bete. Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen. Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wachet mit mir! (Mt 26,36-38)

 

„Betrübt bis an den Tod“? Das hat er wirklich gesagt! So niedergeschlagen, so deprimiert habe ich unseren Rabbi nie erlebt, und ich gebe zu, dass es mich schockiert. Todesangst. Es war Todesangst, die ihn in diesen Garten getrieben hat. Was Jesus vorhatte, war heikel. Der Messias wollte Gott um Verschonung anflehen. Er kämpfte um sein Überleben.

Wie konnten Petrus und die zwei anderen Jünger diesen Moment zwischen Leben und Sterben unseres Meisters einfach verschlafen?

Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach (Mt 26,41)? Das war’s?

 

Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? (Mt 26,40)

 

Eine Stunde Wachen. Mehr hat er nicht erwartet. Jesus verlangte nicht, dass die Jünger sich an seinem Ringen beteiligten. Nur, dass sie eine Weile seine Verzweiflung aushielten, ohne sie ihm ausreden zu wollen. Aber das war wohl schon zu viel verlangt.

 

 

Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist's nicht möglich, dass dieser Kelch vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille! Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voller Schlaf. (Mt 26,42-43)

 

Ich nenne es Verrat. Bei diesem Wort zuckt Petrus kurz zusammen. Aber dann richtet der bärtige Mann sich wieder zu der Tonne auf, an die seine Figur mich erinnert, und beginnt, sich die peinliche Szene so zurecht zu drehen, dass sie niemanden mehr beschämt: Deprimiert, panisch, resigniert? Warum hätte Jesus denn resigniert klingen sollen? Im Gegenteil! Petrus besteht darauf, wie gelassen unser Meister geblieben sei.

Glaubt dieser Mensch wirklich, was sein schlechtes Gewissen ihm einflüstert? Kann er wirklich nicht nachfühlen, wie enttäuscht Jesus gewesen sein muss, als er zum dritten Mal vor den Schnarchern stand? Ihre aufgesperrten Mäuler: ein Abgrund an Gleichgültigkeit.

Doch statt die Jünger in eine Diskussion über Gefühlskälte und Ignoranz zu verwickeln, treibe ich nun meinerseits die Männer zum Aufbruch an. „Lasst uns gehen!“ fordere ich sie auf. Der Verräter ist längst auf der Bühne erschienen.

 

 

Wenn ich an unsere ersten, euphorischen Tage in Jerusalem denke, wachsen meiner Seele gleich wieder Flügel. So viel Gottvertrauen! So viel Energie! Wir waren dabei, die Zeit neu zu erfinden. Das „Hosianna“ der Pilger federte unseren Abstieg vom Ölberg so weich ab wie einen Ritt durch eine Herde Schäfchenwolken! Es war soweit. Der Messias Israels zog in die Hauptstadt ein, und das Volk jubelte seinem künftigen König zu.

Gebannt verfolgte ich jede kleine Regung in Jesu Schulter- und Armmuskeln. Ja, dieser Mann befand sich in Hochform. Wenn er wollte, dann konnte er zupacken! Und mitreißen. Und alle starren, sinnlosen Regeln über den Haufen werfen. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie athletisch sein Körper gebaut war. Ja, ich gestehe: Von seinen gut abgestimmten Bewegungen ging eine erotisierende Anziehungskraft aus. Und als dann sogar Lahme und Blinde sich zusammenrotteten, um sich ein dickes Stück vom Kuchen der paradiesischen Zustände zu sichern, als Jesus diese Frauen und Männer durch eine zielgenaue Berührung mit dem Zeigefinger aus ihrem lethargischen Wartestand befreite, da fingen sogar die Kinder im Tempel zu singen an: „Hosianna dem Sohne Davids!“

 

 

Ein paar Tage ist das erst her. Doch unser Messias scheint all seinen Schwung verbraucht zu haben. Beunruhigt beobachte ich aus einigem Abstand, wie Jesus den Kuss seines Verräters über sich ergehen lässt, ohne sich zu wehren. Stocksteif steht er da. Judas hat sich aus einer Truppe Bewaffneter gewunden, um mit elastischen Schritten auf den Meister zuzufedern. Wie er lächelt! Wie er sich verbeugt! Als wolle er seinen ganzen Charme aufbieten, bevor er Jesus zum Totentanz auffordert. Und der Rabbi? Dreht nicht mal den Kopf zur Seite. Wartet einfach ab, bis die verschwitzte Umarmung dieses Freundes ihn wieder frei Atmen lässt.

 

Wann diese merkwürdige Lähmung eingesetzt hat, weiß ich nicht genau. Schon während der Passafeier mit den zwölf Jüngern wirkte er verändert: irgendwie nervös, oder aufgewühlt. Jesus verteilte Brot und Wein an alle anderen, ohne selbst auch nur einen Bissen zu sich zu nehmen. Seit Stunden sammelte er gute Argumente für sein Überleben. Wer, wenn nicht er selbst, sollte den Sanftmütigen das Erdreich zuteilen? Wer konnte die Friedlichen anstiften, nicht zu resignieren? Diese und andere, dringliche Fragen wollte er seinem Gott stellen, als er ihn um Verschonung bat. Und falls dieser Gott sich nicht überzeugen ließ, dann würde Petrus sich hinter ihn stellen und gegen das beharrliche Kopfschütteln Gottes protestieren. Vor einigen Minuten erst hatte sein erster Jünger ihn seiner Treue und Loyalität versichert. Nie, nein nie im Leben werde er Jesus verleugnen, hatte er geschworen. Noch vor dem Hahnenschrei brach Petrus sein Versprechen. Drei Mal hob das Schwergewicht in süße Träume ab und hinterließ einen gähnenden, aus den Nasenlöchern pfeifenden Abgrund vor seinem Herrn.

 

 

Jesus zog hinauf nach Jerusalem und nahm die zwölf Jünger beiseite und sprach zu ihnen auf dem Wege: Siehe, wir ziehen hinauf nach Jerusalem, und der Menschensohn wird den Hohepriestern und Schriftgelehrten überantwortet werden; und sie werden ihn zum Tode verurteilen und werden ihn den Heiden überantworten, damit sie ihn verspotten und geißeln und kreuzigen. (Mt 20,17-19)

 

Jesus wusste doch genau, was ihm blüht. Der Messias soll ausgeschaltet, das Ruder aus seiner Hand gerissen werden. Oder hat er selbst es losgelassen, sobald er spürte, dass er ganz allein am Steuer sitzt?

So saft- und kraftlos, wie Jesus inzwischen in seinen Kleidern hängt, hat er seinen Gegner aus Jerusalem keine Eigeninitiative mehr entgegen zu setzen, keinen Widerstand. Alle Impulse gehen plötzlich von anderen aus. Als wäre er aus seiner eigenen Geschichte gerissen worden, als müsste unser Messias ab jetzt alles hinnehmen, was die Feinde ihm zuteilen, alles schlucken, was ihm eingeflößt wird, alles annehmen, was man ihm reicht. Gefesselt wird er, abgeführt, die Straße entlang gezogen und gestoßen, hin und wieder in die Seite gepufft, geprügelt sogar, vor den Hohen Rat gezerrt, ausgefragt, ausgelacht, angeschrien, beschuldigt, verurteilt, gefoltert, bespuckt, erniedrigt, beleidigt, verspottet.

Mühselig. Beladen.

 

 

Und als sie hinausgingen, fanden sie einen Menschen aus Kyrene mit Namen Simon; den zwangen sie, dass er ihm sein Kreuz trug (Mt 27, 32)

 

Jesus. An dieses Kreuz haben sie ihn geschlagen.

Dann: Drei Tage Stillstand. Nichts geht mehr.

Die ersten Stunden in diesem betäubten Zustand sind ein Albtraum. Hungernde, durstende, weinende Gespenster rütteln an unseren Schultern. „Mich dürstet!“ höre ich sie rufen, immer wieder „Mich dürstet!“. Sie klagen ihre Hoffnungen auf bessere Verhältnisse ein. Aber von uns Jüngern traut sich keiner mehr zu, an einer Zukunft zu bauen.

Müssen wir das denn überhaupt? Nach einem Tag Zwangspause traue ich mich, mir diese Frage zu stellen: Reicht es nicht, einfach abzuwarten? Müssen unsere erschöpften Leiber sich jeden Morgen neu zum Erwachen aufraffen, zum Aufstehen, statt sich wecken zu lassen?

Drei Tage Stillstand. Ich lege mich auf den Rücken und suche den offenen Himmel nach einem Horizont ab. Nichts will unbedingt entworfen, getan, geschafft oder vollendet sein. Der Himmel kann warten.

Auf meinem Rückweg nach Galiläa gestehe ich mir schon in Bethanien eine Ruhepause zu. Da fällt mir Simon, der Aussätzige ein, ein alter Freund Jesu.

 

 

Unter seinem Dach könnte ich Rast machen, um mich ein bisschen aufpäppeln zu lassen. Sein Haus ist gastfreundlich, wie ich weiß. Kurz bevor Jesus die letzten Stationen seiner Reise antrat, wurden wir alle von Simons Personal umsorgt und gestärkt. Wie großzügig sein Tisch gedeckt war!

 

Als Jesus in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen, trat zu ihm eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit kostbarem Salböl – und goss es auf sein Haupt, als er zu Tisch saß. (Mt 26, 6-7)

 

Wie so oft haben die Herren Jünger nichts Besseres zu tun, als zwischen zwei reichlichen Bissen Dörrfleisch einen rechthaberischen Einwand neben all die Köstlichkeiten auf Simons Tisch zu spucken. „Vergeudung!“ mahnen sie kleinkrämerisch. „Das Öl wäre besser teuer verkauft worden!“ und so weiter. Alles fein gestichelte Maßregeln gegenüber einer Frau, die unserem Meister unbeirrt und hoch konzentriert seinen Nacken massiert. Eine Wohltat. Keiner der Besserwisser will bemerken, wie gut es dem Rabbi tut, ein letztes Mal von Frauenhänden liebkost zu werden. Statt zu wachen und zu beten, statt abzuwarten, bis die Frau mit ihrer Salbung fertig ist, rechnen sie ihm Verschwendung in roten Zahlen vor. „Das Geld für dieses Öl sollte man besser den Armen geben als es zu verplempern!“, heißt es. Dabei ist es längst zu spät für eine vernünftige Investition in bessere Tage.

 

Was bekümmert ihr die Frau? Sie hat ein gutes Werk an mir getan! (…) Dass sie dies Öl auf meinen Leib gegossen hat, hat sie getan, dass sie mich für das Begräbnis bereite. (Mt 26,10.12)

 

Was ein gutes Werk ist, was vergebliche Liebesmüh, wird anderswo entschieden.

Die salbende Frau – sie hat getan, was sie konnte. Ich bin mir sicher – seitdem wacht sie an Jesu Seite. Die Zukunft konzentriert sich unbeirrt in diesem Salbenduft – und weht, wohin sie will.

 

 

Wahrlich, ich sage euch: Wo dies Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat. (Mt 26,13)

 

Es gilt das gesprochene Wort.