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Mauern
Mit meinem Gott springe ich darüber
10.11.2019 07:35
Sendung nachlesen:

„Mit meinem Gott springe ich über Mauern.“ (1) Ein Satz aus der Bibel. Für viele Christen in der DDR hatte er eine besondere Bedeutung. Er hat ihre Hoffnung ausgedrückt: Diese Mauer, die sie in ihrem Staat wie in einem großen Gefängnis einsperrt, irgendwann wird sie Geschichte sein.

„Mit meinem Gott springe ich über Mauern.“ Die Leichtigkeit dieses Satzes wurde Wirklichkeit – gestern vor 30 Jahren, am 9. November 1989. Menschen kletterten auf die Berliner Mauer und tanzten auf ihr. Die vorher tödliche Grenze öffnete sich – und das ohne Gewalt, ohne Rammböcke, ohne dass ein Schuss fiel.

 

(O-Ton Mauerfallkonzert)

 

„Mit meinem Gott springe ich über Mauern.“ So gewaltfrei ist der Satz in der Bibel nicht. Da geht es nicht darum, eine Mauer zu überwinden und dadurch die Freiheit zu gewinnen. Mit dem Sprung über die Mauer will jemand in eine Stadt eindringen und sie erobern. Der Psalm, in dem dieser Vers steht, wird König David zugeschrieben. David sieht sich von Feinden umzingelt. Er hat Angst und schreit zu Gott. Und Gott erhört ihn. Im Psalm heißt es:

„Gott streckte seine Hand aus der Höhe (…) Gott errettete mich von meinen starken Feinden.“ (2) König David dankt Gott und bekennt: „Ja, du, Gott, bist meine Leuchte; Gott macht meine Finsternis licht. Denn mit dir kann ich Wälle erstürmen und mit meinem Gott über Mauern springen.“ (3) Der Beter des Psalms spricht davon, dass er nun seinen Feinden nachjagen wird und die vernichten, die ihn hassen.(4)  

 

So kann ein Satz, der aus dem Krieg stammt, Jahrtausende später eine friedliche Wirkung entfalten. Vielen Menschen in der DDR sprach der Psalm aus der Seele. Sie sahen sich von Feinden umzingelt, von der Stasi und ihren Spitzeln, die überall waren. Da waren die Mauer und der Todesstreifen, der das Land zerteilte und vom Westen abschnitt. Und da war die Hoffnung, die immer größer wurde: „Mit meinem Gott springe ich über Mauern.“ Das klang nicht nach Krieg. Das war die Musik der Sehnsucht nach Freiheit. Für viele Christen gehört dieser Bibelvers zur Friedlichen Revolution vor 30 Jahren. Und die hörte sich damals so an:

(O-Ton Mauerfallkonzert)

 

Worte und Sätze können über sich selbst hinauswirken. Es ist ein Segen, wenn sie sich von Krieg und Gewalt lösen und zu einem Wort der Freiheit und des Friedens werden. Die Melodie der Freiheit klang schon immer in dem Bibelvers mit. Sie kam mit der Zeit immer mehr zum Tragen; gab Menschen Mut, den Sprung über Mauern tatsächlich zu wagen: hinein in ein neues Leben.

 

Aber jede Mauer hat zwei Seiten. Auch die biblischen Mauern. Sie bieten Schutz, aber sie richten auch Schaden an. Sie teilen die Welt in ein Drinnen und ein Draußen, in ein Diesseits und ein Jenseits der Mauer. Das kann wohltuend sein. Wenn ich nach einem vollen Tag abends nach Hause komme, ist es herrlich, die Haustür hinter mir zuzumachen und in meinen eigenen vier Wänden zu sein. Liebe Welt, du kannst jetzt mal schön draußen bleiben – ich bin hier für mich! Menschen brauchen Grenzen und geschützte Räume. Grenzen an sich sind nicht unmoralisch, solange sie Durchgänge und Tore haben, durch die man hinein- und hinauskommt.

 

In der Bibel sind Mauern an erster Stelle positiv. Sie stehen für Schutz und Sicherheit. Früher war eine Stadt erst eine Stadt, wenn sie von einer Stadtmauer umgeben war. Draußen auf dem Land ist man Feinden ausgeliefert. Hinter die Mauern einer Stadt kann man sich flüchten. Darum werden Städte oft als eine Frau dargestellt, die eine Mauerkrone auf dem Kopf trägt. Die Menschen in der Bibel nennen Gott an vielen Stellen „meine Burg“. Bei Gott finden sie Zuflucht vor allem, was und wer ihr Leben bedroht. Innerlich, manchmal auch ganz handfest äußerlich. Ich bin gottfroh, dass vor einem Monat in Halle die Tür der Synagoge dem Angriff des rechtsextremistischen Attentäters standgehalten hat. Die Mauern haben die Jüdinnen und Juden im Gotteshaus geschützt.

Mauern schützen vor Feinden. Diese positive Wirkung können Menschen allerdings auch zum Schlechten missbrauchen. Dann grenzen Mauern aus, schotten ab, sperren ein und richten sich feindselig gegen andere. Solche Mauern stehen für die brutale Botschaft: „Wir gegen die!“ In der Bibel gibt es ein Buch, in dem kommen die schützende und die aggressive Wirkung von Mauern ganz dicht nebeneinander vor. Die Babylonier haben Jerusalem erobert, die Stadtmauern und den Tempel zerstört. Die Stadt liegt über 100 Jahre in Trümmern, ein Jammerbild dessen, was sie einmal war. Aber nun gibt es neue Hoffnung für Jerusalem. Die politische Lage wendet sich. Die Perser sind die neuen Machthaber. Der persische Großkönig erlaubt dem Judäer Nehemia, seine zerstörte Heimatstadt Jerusalem wieder aufzubauen.

Auch die Stadtmauer. Als sie eingeweiht wird, kommt es zu Freudenszenen. Menschen steigen auf die Mauer. Dankeschöre singen, Harfen und Hörner spielen. Politiker halten Reden, Geistliche feiern Dankgottesdienste. Männer, Frauen und Kinder freuen sich so laut, dass man es schon von ferne hört. (5) Ich stelle mir das vor wie damals vor 30 Jahren an der Berliner Mauer. Vor fast 3000 Jahren, zur Zeit Nehemias, tanzten die Menschen vor Freude über den Mauerbau. Vor 30 Jahren tanzten die Menschen vor Freude über den Mauerfall. Sie feierten die Freiheit.

 

(O-Ton Freiheitsrufe Demo und „Ode an die Freude/Freiheit“ )

 

Die Freude über neu errichtete Stadtmauer im biblischen Buch Nehemia ist wirklich groß. Die Mauer steht für die Stadt: Das vorher zerstörte Jerusalem steht wieder auf wie der Phoenix aus der Asche. Die Stadt bietet wieder Schutz für ihre Einwohner. Aber in den Jubel mischen sich schnell aggressive Töne. In der Bibel heißt es: Als die Mauer fertig war, „fürchteten sich alle Völker, die um uns her wohnten“ (6). Aus dem Schutz für die eigenen Leute wird sehr schnell eine Bedrohung für die anderen. Und auch ins Innere der Stadt wirkt die Mauer ausgrenzend. Ein altes Gesetz wird wieder in Kraft gesetzt, dass alle Fremden aus dem Volk ausschließt. Sie dürfen „niemals in die Gemeinde Gottes kommen“ (7), heißt es.

 

Es steht hier Bibelwort gegen Bibelwort. Denn in der Thora, in den fünf Büchern Mose, gibt es das Gebot: Du sollst deinen Nächsten lieben. Und sogar: „Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst.“ (8) Nun verfügt Nehemia im wiederaufgebauten Jerusalem: Ausländer raus! Das ist ein Affront gegen die Geschichte seines Volkes und gegen sein eigenes Königshaus. David und Salomo, die legendären Könige Israels, stammen von Ausländerinnen ab, von der Kanaanäerin Rahab und von der Moabiterin Rut. In dem Eifer, die Identität seines Volkes zu schützen, übergeht der Mauerbauer Nehemia dessen geistig-geistliche Grundlagen.

Die Erzählung in der Bibel über Nehemia und seinen Wiederaufbau der Stadtmauer Jerusalems zeigt, was Mauern können – im Guten wie im Schlechten. Sie schützen. Sie behüten einen Raum, in dem Menschen angstfrei zu sich kommen und sich auf Gott und sich selbst besinnen können. So wie die Kirchenmauern, hinter denen die Friedensbewegten zur Zeit der DDR viele Gedankenfreiräume gefunden haben. Das ist die positive Stärke von Mauern.

Aber Mauern werden zum Ausdruck der Angst und der feindseligen Abschottung, wenn sie nach innen und nach außen gegen andere aufgerichtet werden. Dann sind sie menschliche Bankrotterklärungen aus Stein, Beton und Stacheldraht. Man findet für eine Situation keine andere Lösung als sich selbst einzuschließen und andere auszugrenzen.

 

 

Eine Mauer in den Köpfen teilt im Neuen Testament die ersten christlichen Gemeinden. Die ersten Mitglieder der Jesus-Bewegung waren ausschließlich Jüdinnen und Juden, die daran glaubten: Jesus ist der verheißene Messias, der Retter Israels. Jesus ist der Sohn Gottes, den Gott vom Tod auferweckt und damit allen die Tür aufgeschlossen hat zum ewigen Leben. Der Funke der Begeisterung für Jesus Christus sprang auch auf Nicht-Juden über, die sich taufen ließen. Das sind die so genannten Heidenchristen – also Griechinnen, Äthiopier, Römerinnen und viele mehr aus den Nationen des Römischen Reiches.

Für die ersten Anhänger der Jesus-Bewegung, die so genannten Judenchristen, war das am Anfang überhaupt nicht selbstverständlich. Hier kommen einfach andere dazu, die auch die Erlösung durch den Juden Jesus Christus für sich beanspruchen. Diese anderen halten sich aber nicht an die Gesetze der Thora, an die heiligen Schriften des Judentums, die auch für Christen die Quelle des Glaubens an Gott sind. In den ersten christlichen Gemeinden knirscht es kräftig zwischen Judenchristen und Heidenchristen. Die einen halten sich für die besseren Gläubigen. Die anderen fühlen sich benachteiligt und herabgesetzt zu Christen zweiter Klasse. So wie heute manche Nachbarn nicht mehr miteinander sprechen, weil ihre Einstellungen wie eine Mauer zwischen ihnen stehen.

In diesem Konflikt schreibt jemand im Namen des Apostels Paulus an die christliche Gemeinde in Ephesus, damals eine Großstadt an der Küste Kleinasiens, heute in der Türkei gelegen. Der Schreiber dieses Epheserbriefes in der Bibel formuliert eine Überzeugung, die bis heute erstaunlich ist: Bei Gott kommt es nicht auf die Herkunft eines Menschen an. Wörtlich steht da: Jesus Christus hat den Zaun abgebrochen (9). Heute würde man sagen: die Mauer in den Köpfen zu Fall gebracht. Jesus Christus hebt auf, was Menschen untereinander zu Gegnern macht. Im Vertrauen auf Gott gilt für alle: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.“ (10) Der andere ist nicht zuerst der andere, sondern zuerst Schwester und Bruder, ein Kind Gottes wie ich.

Der Glaube an Gott hat im Alten wie im Neuen Testament einen universalen, Grenzen überschreitenden Zug. Im Prophetenbuch Jesaja ist das eine große Vision: Am Ende der Zeit strömen viele Völker zum Berg Zion nach Jerusalem. Dieses Strömen ist kein Ansturm von Feinden, vor dem man sich mit hohen Mauern schützen müsste. Sondern: Die Menschen machen ihre Schwerter zu Pflugscharen. Sie werden nicht mehr lernen, Krieg zu führen. (11)

 

Da braucht es keine Mauern mehr – oder höchstens solche, wie sie das letzte Buch der Bibel, das Buch der Offenbarung beschreibt. Das erzählt vom himmlischen Jerusalem. Das hat zwölf große Tore zu allen Seiten, so dass Menschen aus allen Himmelsrichtungen kommen können. Und die Mauern des himmlischen Jerusalems sind aus Jaspis (12). Ein Edelstein, der in allen Farben glänzt – vielleicht ein bisschen so, wie Hundertwasser seine Gebäude gebaut hat. Also keine Mauern, die abschrecken, sondern die anziehend wirken.

Die Völker friedlich gemeinsam am Berg Zion. Das himmlische Jerusalem. Das sind die großen Visionen und hohen Ideale der Bibel. Am Ende der Zeit und im himmlischen Jerusalem sind wir noch nicht angekommen. Es gibt nach wie vor und immer wieder neu Mauern, die Menschen gegeneinander errichten. Aber das schmälert die Vision und das Ideal nicht. Im Gegenteil: Ich brauche die großen Visionen und hohen Ideale für meine Hoffnung, dass immer wieder möglich ist, was vor 30 Jahren wirklich wurde: der Fall einer spaltenden, todbringenden Mauer. Ohne Gewalt, ohne Rammböcke, ohne dass ein Schuss fällt.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Moderation Steffen Simon, Mauerfall - das legendäre Konzert für Berlin '89
  2. Sonderzug nach Pankow, Udo Lindenberg, Mauerfall - das legendäre Konzert für Berlin '89
  3. Sinfonie Nr. 9 d-moll, Ludwig van Beethoven, Leonard Bernstein, Rundfunkchor Berlin u.a., Liveaufnahme 25.12.1989, Symphony Nr. 9 – Ode an die Freiheit
     

Literaturangaben:

  1. Psalm 18,30 / 2. Samuel 22,30
  2. Samuel 22,17-18
  3. Samuel 22,29-30
  4. 2. Samuel 22,38.41
  5. Nehemia 12,27-43
  6. Nehemia 6,16
  7. Nehemia 13,1
  8. 3. Mose 19,33
  9. Epheser 2,14
  10. Epheser 2,19
  11. Jesaja 2
  12. Offenbarung 21,18