Am Abgrund der Hölle
Am Abend des 2. Februar 2019 wurde in Berlin ein totes Baby geborgen. Wie sich später herausstellte, war es vor der Geburt verstorben. Spaziergänger hatten es in einem Gebüsch gefunden, dort lag es so nackt wie es auf die Welt gekommen war. Die herbeigerufenen Polizeibeamten waren entsetzt, schockiert. Denn wenn es um Kinder geht, dann ist eine professionelle Distanz kaum noch möglich. Für sie war es, als ob sie direkt in den Abgrund der Hölle schauten. Was ist nur passiert, dass jemand ein totgeborenes Baby einfach – wegwirft?
Mit aller Würde
Berlin ist eine harte Stadt, eine Hochburg der Einsamkeit. Und doch hat das Schicksal des namenlosen toten Babys die Herzen vieler berührt. Menschen – auch Polizeibeamte – fanden sich zusammen, weil sie eine solche kalte Realität nicht hinnehmen wollten. Anstelle einer anonymen ordnungsbehördlichen Bestattung gaben sie dem kleinen Mädchen am 13. Februar das letzte Geleit. Sie wurde mit einem Namen versehen und dann mit aller Würde bestattet, deren unsere Kultur fähig ist.
Wie es zu diesem ungewöhnlichen Ereignis kam? Nachdem die Gerichtsmedizin den Leichnam freigegeben hatte, meldete sich ein Bestattungsunternehmen, das anbot, das kleine Mädchen kostenlos zu bestatten. „Wenn schon die Eltern nicht in der Lage sind, sich um das Mäuschen zu kümmern, dann werden wir das eben tun.“
Die Kosten für den Friedhof übernahm ein anonymer Spender, der vor kurzem Vater einer Tochter geworden war. Auch ein Steinmetz fand sich, der ein Holzkreuz mit dem eingebrannten Namen „Dorothea“ stiftete. „Wenn niemand sonst Geld nimmt, will ich auch keines dafür.“ Er konnte es mit einer Sonderschicht noch rechtzeitig zur Beerdigung fertig stellen, so dass alle, die das kleine Mädchen auf ihrem letzten Weg begleiteten, ihren Namen vor Augen hatten.
„Gott auf frischer Tat“
„Dorothea“ ist mehr als nur ein Name für das kleine Mädchen. Er stammt aus dem Altgriechischen und ist ein Versprechen: „Gottesgeschenk“. So wie Martin Luther einmal gesagt haben soll: „Wenn Du ein Kind siehst, begegnest Du Gott auf frischer Tat.“ Die kleine Dorothea sollte wenigstens im Tod umsorgt sein. Ihr einen Namen in den Tod mitzugeben, heißt, sich von Gottes Versprechen trösten zu lassen: „Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen, Du bist mein.“ (Jes. 43,1). Denn erinnern die Umstände, unter denen das kleine Baby aufgefunden wurde, nicht radikal auch an die eigene Sterblichkeit? Und daran, dass Trost nötig ist?
Ein Trompeter des Polizeiorchesters spielte am Grab. Er hatte ein Kinderlied ausgesucht. Unter den Klängen von „Weißt Du, wie viel Sternlein stehen“ ließen der Bestatter und seine Frau den kleinen weißen Sarg in die Erde gleiten. Anschließend nahmen alle, auch die Friedhofsgärtner Abschied und ließen Rosenblätter regnen über das Grab.
Der Bibelspruch, der Dorothea mitgegeben wurde, stammte aus dem Buch des Propheten Jesaja. Er tröstet die Stadt Jerusalem in schlimmen Zeiten, die verzweifelt fragt, ob Gott sie vergessen hat. Aber Gott antwortet: „Kann denn eine Mutter ihr Kind vergessen, dass sie sich nicht erbarme über die Frucht ihres Leibes? Und selbst wenn sie es täte, so will ich doch Deiner nicht vergessen. Sieh her, ich habe Dich eingezeichnet in meine Hände.“ (Jes.49. 14)
Es war ein strahlender Sonnentag, der Himmel von einem klaren Blau. Als die Trauergäste den Friedhof verließen, erfuhren sie, dass der Friedhof die Patenschaft für das Grab übernehmen und es pflegen würde.
Wenn Menschen sich unabhängig voneinander zusammentun, um einem namenlosen toten Baby mit aller Würde das letzte Geleit zu geben, dann entsteht Wärme und Nähe. Und wir erahnen, was es bedeutet, wenn Gott jemanden unauslöschlich einzeichnet in seine Hände.