Morgenandacht
Mutterliebe
08.06.2020 06:35
Sendung zum Nachlesen

Ohne Liebe bin ich hohl. Nicht nur gefühlt, auch erkenntnistheoretisch. Mein Verstand reicht nicht so weit, hat ohne Liebe nicht genug Resonanzraum. Ohne Liebe bin ich nur eine klingende Schelle, heißt es in der Bibel.

Wo Liebe anfängt, will ich wissen. Vermutlich mit der Mutterliebe.

 

I can live with the sky falling out from above
I can live with your scorn, your sourness, your smug
I can live growing old alone if push comes to shove
But I can't live without my mother's love

 

„Ich könnte damit leben, wenn der Himmel über mir herunterfällt, ich könnte mit deiner Verachtung leben, mit deiner Bitterkeit, deiner Arroganz, ich könnte allein alt werden, wenn es hart auf hart kommt, aber ich könnte nicht ohne die Liebe meiner Mutter leben.“

So besingt es Sun Kil Moon.

Warum gibt es eigentlich so viele Lieder über Mutterliebe? Was lässt sie so mächtig und sehnsuchtsbesetzt sein?

Weil Mutterliebe ohne Bedingung ist. Das bloße Sein genügt ihr. Nackt und ungeschützt und hungrig kommen wir Menschen auf die Welt, in sie hineingeworfen und abhängig. Schrecklich, wenn da nicht jemand wäre, der mich birgt und hält, der mich nährt. Schrecklich, wenn da nicht dieses strahlende Gesicht wäre, ein Lächeln: Du bist meine Freude. Wie schön, dass es Dich gibt.

So ist „Mutterliebe“, zumindest ihrer Natur nach. Manchmal kommt sie nicht von der leiblichen Mutter. Das ist hart. Jedes Kind, jeder Mensch hat das Recht darauf, dass jemand sagt: Es ist gut und richtig, dass Du da bist. Du bist willkommen!

Mutterliebe kann zum Glück auch von anderen, vom Großvater oder später von einer Freundin kommen. Vielleicht müsste man der Geschlechtergerechtigkeit wegen „Elternliebe“ sagen. Die Liebe, die ich meine, ist auf jeden Fall diese frühe, ursprüngliche Liebe: tief und satt, beruhigend. Ein Idealbild, sicher. Selten, dass Mutterliebe andauernd und störungsfrei einfach da ist. Aber in sich ist Mutterliebe das, umfassend und warm. Und sie weist über sich selbst hinaus.

„Kann denn eine Mutter ihr Kind vergessen? Und selbst, wenn sie es könnte, ich werde dich nicht vergessen.“ Sagt Gott uns Menschen durch den Propheten Jesaja. Mutterliebe ist der Struktur nach irdisch an die Mutter und enge Bezugspersonen gebunden. Ihrer Herkunft nach ist sie ein Gottesattribut.

Der christlich-jüdische Glaube schreibt Gott ohne weiteres mütterliche Attribute zu. Gott, der schützend und bergend in das Weltgeschehen eingreift. Ganz ohne patriarchale Wertmaßstäbe. Tatsächlich ist mütterlich eine Qualität, keine Geschlechterzuschreibung. Gott „erbarmt sich seiner Küken“ wie eine Henne - heißt es im Matthäusevangelium.

Solche Erfahrung von Liebe spiegelt auch gegenwärtige christliche Lyrik. Logik von Zeit und Raum spielen dabei keine Rolle mehr. Wenn Gottesliebe als Mutterliebe wirkt, können auch Erwachsene in einen schützenden Uterus verlegt werden. „Nur Mut, sagt Gott und legt sich Maria unters Herz.“ So heißt es in dem Advents-Gedicht „Geistesblitz“. Biologische Zusammenhänge werden dabei einfach außer Kraft gesetzt. Maria, die Mutter Jesu, legt Gott sich selbst unters Herz, ganz so wie eine Schwangere ihr Kind trägt.

Gynäkologische Logik sieht anders aus. Aber mit der hat Gottesliebe als Mutterliebe auch nichts am Hut. Gottes Mutterliebe richtet sich nicht nach Stammbäumen, Urkunden und Vaterschaftstesten. Sie adoptiert sich gnädig und gelassen durch starre Strukturen, versöhnt kindliche Wutanfälle bei Erwachsenen und umsorgt Eitelkeiten mit Trostpflastern. Gottes Mutterliebe ist barmherzig bis in die letzte Konsequenz.

Keine Mutter kann dies leisten. Aber ausreichend gute Mütter geben einen Geschmack auf diese Liebe, ihre Zuwendung verweist auf diese Qualität. „Ich könnte nicht leben ohne die Liebe meiner Mutter“ heißt es in dem Lied von Sun Kil Moon.

Ich könnte nicht leben ohne diese Liebe Gottes. Ohne sie wäre ich gar nicht. Und zum Glück muss niemand ohne sie sein. „Gott lasse leuchten sein Angesicht über Dir“, sagen wir Christen beim Segen. Und meinen damit genau dies: Dass Gott vor Mutterliebe strahlt.

 

Es gilt das gesprochene Wort.