Kunst von Weltrang kann überall entstehen. Auch in einer kleinen Wohnung. Das beweist Prof. Dr. Johannes Schreiter, einer der renommiertesten Glaskünstler unserer Zeit. Seine Glasfenster zieren Hunderte von Kirchen, Synagogen, Bibliotheken, Rathäuser und private Gebäude. Und es geht immer weiter, auch wenn Schreiter heute seinen 85. Geburtstag feiert. Ich sage: Herzlichen Glückwunsch und wünsche Gottes Segen!
Viel Zeit zum Feiern nimmt sich Schreiter nicht. Weitere Kirchen warten auf moderne Glasfenster aus seiner Hand: In Osnabrück, Rothenburg ob der Tauber, Frauendorf in Sachsen und auch in seiner Heimatstadt – Langen in Hessen, zwischen Frankfurt und Darmstadt.
Johannes Schreiter, Künstler und bekennender Christ, ist Gott dankbar, dass er noch immer diese schöpferische Kraft hat. Und so zieht es ihn immer wieder in sein Atelier in Langen. Wer sich darunter einen großen und besonderen Raum vorstellt, liegt falsch. Das Atelier befindet sich im Erdgeschoss einer Hochhaus-Siedlung. Kunst von Weltrang kann eben überall entstehen – auch in einer ganz normalen Dreizimmer-Wohnung. Hier malt Schreiter seine Entwürfe, zuerst klein. Dann überträgt er sie in Originalgröße, also bis zu 20 Meter groß. Seine Werke genießen weltweiten Ruf und sind auf alle Kontinente dieser Erde verteilt. In seinem Atelier hängen die Wände voller Entwürfe. Fenster für das Ulmer Münster, den Augsburger Dom, Synagogen in Chemnitz und Mainz, die Stiftskirche in Stuttgart, die Peterskirche in Heidelberg, die Nikolaikirchen in Kiel und Stralsund – um nur einige zu nennen.
Wie viele Glasfenster er genau entworfen hat, weiß er selbst nicht mehr. Wie schafft Schreiter es, über mehr als sechs Jahrzehnte hinweg derartig kreativ zu sein? Hat er einen Trick?
Schreiter: Irgendwelche geistigen Techniken habe ich zur Provokation meiner Kreativität keine entwickelt. Ideen, die sich plötzlich einstellen, halte ich zunächst in kleinen Skizzen fest. Als wirklich ergiebig habe ich jedoch in den letzten Jahren das Ora et Labora erfahren.
Ora et labora – bete und arbeite. So lautet die alte Regel der christlichen Mönche, die sich Schreiter zu Eigen gemacht hat. Hier blitzen die zwei Geisteswelten auf, die Schreiter in seiner Person verbindet: Die Glaskunst und der Glaube. Wie ist er zu einem Künstler geworden?
Schreiter: Ich bin ganz sicher, dass die Veranlagung zu jedem schöpferischen Tun ein Geschenk von oben ist, also eine Berufung. Spätestens als Schüler wurde mir klar, dass mir die Kunst als Aufgabe anvertraut worden ist.
Doch nicht nur das Malen war Schreiter in die Wiege gelegt. Auch die Musik hatte es ihm angetan. Aber die konnte er nicht mehr zum Beruf machen, als er sich im Alter von 19 Jahren eine Hand schwer verletzte. Das geschah 1949, als er auf allen Vieren unter einem Stacheldraht durchkroch. Der hieß damals noch Zonengrenze und ist heute verschwunden. Damals floh Schreiter aus seinem Geburtsort Annaberg-Buchholz im Erzgebirge, weil er in den Uranbergbau zwangsrekrutiert werden sollte. Unter dem Stacheldraht endete sein Musiktraum. Doch aus seinen jungen Jahren gibt es ein paar Kompositionen von ihm. Drei davon werden in dieser Sendung erklingen. Die erste trägt den Titel „Faustnatur“.
„Faustnatur“ von Johannes Schreiter
Zurück in das Atelier von Johannes Schreiter, wo auf dem Schreibtisch griffbereit eine Bibel liegt und die Wände voller Entwürfe hängen – viele seiner Fenster kann man auch auf Fotos im Internet bewundern. Schnell ist das Auge geschult und erkennt das Besondere an Fenstern aus Schreiter-Hand. Er war der erste, der eine künstlerische Idee über mehrere Fenster hinweg entfaltete. Der erste, der seine Formen von den scheinbaren Grenzen der Fensterränder und Bleikanten befreite. Und er war der erste, der große monochrome Farbflächen schuf. Sie sind es auch, die sofort auffallen: die markant großen Farbflächen. Das Auge versinkt geradezu in leuchtenden Blautönen, in erdigen Ocker-Braunschattierungen oder anderen intensiven Farben. Dabei scheint sich das Glas selbst unsichtbar zu machen. Es tritt zurück, um die Farben sichtbar zu machen, die im hereinströmenden Licht verborgen sind. Diese weiten Farbflächen werden von kleinen schwarzen Linien durchzogen. Manche dieser Linien durchschneiden die Farbflächen kerzengerade und geben dem Fenster damit eine klare und einfache Struktur. Andere dagegen schlängeln, mäandern und kräuseln sich durch die Buntglasflächen wie ein chaotisches Krabbeln.
Schreiter: In meinen Arbeiten sind die Gegensätze von geraden und impulsiv-spontan wirkenden Linien kaum zu übersehen. Für mich beinhalten die Geraden eher geometrische, unumstößliche Ordnungen, die aber grundsätzlich der Gefahr ausgesetzt sind, zu erkalten, zu erstarren. Dem gegenüber stecken die spontanen, organischen Linien voller unberechenbarer Eigenschaften. Sie können zielstrebig, suchend, vital, torkelnd, explosiv bis anarchisch, erschöpft und gelegentlich sogar behutsam agieren. Jedenfalls ergänzen, beleben, stützen oder attackieren sie die weitaus stummeren, unbeweglichen Linien. Sie treten quasi symbiotisch auf.
So ringen Chaos und Ordnung miteinander. Aber das ist noch nicht alles. Zu den Schreiter-Fenstern gehört noch eine dritte Ebene: Kleine Zeichen und Symbole. Mal sind sie figürlich wie etwa züngelnde Flammen, Knochen oder ein Fingerabdruck. Mal sind sie ganz abstrakt, reduziert auf eine Grundform, etwa ein Pfeil. Eine dieser Formen gibt Schreiter fast allen Fenstern mit. Er nennt sie „Klammerfiguren“. Sie haben die Gestalt eines eckigen Hufeisens. Ihre Seiten stehen für gen Himmel gereckte Hände – Symbol des Empfangens. Oder – anders herum – als Symbol für die Hände Gottes, die geben, die segnen. Oder – seitlich gedreht – stehen sie für Menschen, die einander geben und nehmen. Leben – auf minimale Striche verdichtet.
So gibt es in den Schreiter-Fenstern auf den zweiten Blick viel zu entdecken, denn sie stecken voller kleiner Anregungen und Anspielungen. Aber der erste Eindruck gilt zweifellos der Ausstrahlung des großen Ganzen. Die weiten farbigen Flächen tauchen den gesamten Raum in eine Atmosphäre der Ruhe, der Gelassenheit. Der Stille vor Gott.
Zweifel an Gott sind Schreiter wohlbekannt. Er hat am eigenen Leib erfahren, was dem modernen Menschen zusammen mit seinem Glauben an Gott verloren gegangen ist.
Schreiter: Verlorengegangen ist ihm zum einen das Misstrauen in seine Autonomie und zum anderen das in die Irrtumslosigkeit seines Verstandes. Der Aphoristiker Martin Kessel hat das absolut treffsicher auf den Punkt gebracht. Er schrieb: „Es gehört Verstand dazu, um zu erkennen, dass es Dinge gibt, an die der Verstand nicht heranreicht. – So war das übrigens auch vor der Bankrotterklärung meines anmaßenden Intellekts bei mir. Damit war allerdings der Boden für eine Umkehr hin zu den Maximen Jesu präpariert.
Schreiters Elternhaus war pietistisch geprägt. Doch das alleine brachte ihm Gott nicht nahe genug. Dazu bedurfte es einer existentiellen Grenzerfahrung im Jahr 1983.
Schreiter: Während einer Gastdozentur in Neuseeland hatte ich mir eine Infektion zugezogen, die mich völlig lahm legte. Die Ärzte standen vor einem Rätsel. Auch ich war am Ende meines humanistischen Lateins. Meine geliebte Philosophie erwies sich als ein Rettungsring mit Löchern, und mein Vertrauen in den Fortschritt der Wissenschaft geriet genauso ins Wanken. Ich begriff, dass meine Hilfe nur noch geschenkweise, und zwar aus einer anderen Dimension kommen konnte. Ergebnis: Mein Paradigmenwechsel hin zu Christus! – Ich verlor nach dieser Lebensübergabe an den Herrn aller Herren nicht nur meine schlimmen, düsteren Ängste, sondern 1988 außerdem diese angeblich unheilbare Krankheit. Mein Regierungswechsel bewirkte zudem noch eine tiefgreifende Veränderung meiner Farb-Welt. Sie verlor gewissermaßen ihre Hoffnungslosigkeit, ihr apokalyptisches Klima.
„Träumerei“ von Johannes Schreiter
Johannes Schreiter ist als Künstler ein bewusster evangelischer Christ. Was ist für ihn das Besondere und das Tröstliche am christlichen Glauben?
Schreiter: Für den an die Zusagen der Bibel Glaubenden ist Gott der Handelnde. Er kommt auf den Menschen zu. Der Versöhnung-Suchende nimmt die Rettung aus seiner Misere ausschließlich im Glauben in Empfang. Er vertraut darauf, dass der Mann aus Nazareth vor 2000 Jahren für uns alles Not-Wendige wieder ins Lot gebracht hat. Mehr wird von ihm nicht verlangt. – Ein Christ wird folglich „ohne Verdienst“, also geschenkweise „gerecht, aus Gottes Gnade, durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“ Nun, da Gott bereits mehrfach als Heilender und Handelnder in meinem Leben gegenwärtig und tätig war, kann ich, ohne mich zu weit aus dem Fenster zu lehnen, mit Hiob bekennen: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt!“
Schreiter ist nicht nur fromm, sondern auch kritisch. Kritisch gegenüber den Kirchen und gegenüber der Kunst. Energisch fordert er von beiden innere Substanz und eine klare Kante gegen das, was er die Entgeistung des modernen Lebens nennt.
Schreiter: Das, was unser Glaube von uns fordert, ist bestimmt nicht zuletzt auch das Gegen-den-Strom-Schwimmen, das heißt gegen die Denk- und Praxismuster des sogenannten Zeitgeistes, und unter Umständen auch, wo nötig, gegen lähmende Traditionen der Kirchen. Dies betrifft im Übrigen ebenso meine Kritik an der Herausforderungslosigkeit unterhaltungssüchtiger Kultur und lauer, nichtssagender Kunst. Für hohles, halbseidenes Entertainment sorgen doch wohl schon andere Medien zur Genüge, oder?
Die Messlatte hat er sich Johannes Schreiter hoch gelegt – als Künstler und als Christ. Seine Körperstatur passt dazu und auch zu seinen Kirchenfenstern: Hoch und hager ragt der 85jährige auf. Mit vollem Haar, braun-grau meliert – ein besonders Begabter. Und doch ist er auch so bodenständig und normal wie sein Atelier in der Hochhaus-Wohnung. Das 85jährige Geburtstagskind soll nun das letzte Wort haben – über einen Bibelvers des Propheten Jesaja, der ihm besonders am Herzen liegt und der bei jeder Taufe gesprochen wird.
Schreiter: Ich empfand, dass hier auch ich gemeint bin; dass dieser Anruf – „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“ – nicht bloß Jakob und Israel galt. So etwas befreit einfach enorm von unserem gleichsam angeborenen Ego-Stress. „Du bist mein“, sagt Gott. Die lästige Fürsorgepflicht liegt somit bei ihm. – Ungeheuer entkrampfend, finde ich!
„Neckerei“ von Johannes Schreiter
Musik dieser Sendung:
Johannes Schreiter, hg. 2008 von der Johannes Schreiter Stiftung, JS001, am Klavier: Rozanna Weidmann
Bibelstellen auf die Bezug genommen wurde:
Römer 3,24
Hiob 19,25
Jesaja 43,1