Wort zum Sonntag
Kann eine Gabel ein Unrecht bedeuten?
29.08.2015 10:00

Alte Familiengeheimnisse

Eine Gabel ist eine Gabel ist eine Gabel. Ein Gebrauchsgegenstand eben. Aber wenn es sich um Familienerbstücke handelt, haben selbst Gabeln etwas zu erzählen. Geschichten von Flucht und Vertreibung, von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder und manchmal auch Anstand und Habgier. Manche Geschichten werden oft erzählt an der familiären Kaffeetafel. Andere nur andeutungsweise und eher widerwillig. „Kind, frag nicht dauernd. Man muss die alten Sachen auch mal ruhen lassen.“

Er hat sich daran gewöhnt und fragt oft nicht mehr nach. Aber ausgerechnet eine Gabel bringt ihn auf die Spur. Denn dieses alte Silberbesteck benutzen sie nur selten. Es sieht zwar schön aus, aber man muss es nun mal per Hand abwaschen. Wenn sie nicht so viele Gäste eingeladen hätten, wäre es auch diesmal im Schrank geblieben. So aber drückt er die Kuchengabeln seiner Mutter in die Hände, die den Kaffeetisch decken will. Einen Augenblick lang starrt seine Mutter auf das schimmernde Silber. Dann gibt sie es ihm zurück. „Ach lass man das Silber, Junge. Wir kommen auch ohne aus.“ Verblüfft schaut er sie an. „Wieso, was ist denn damit? Das ist doch ganz schön!“ Aber seine Mutter wehrt ab. Erst als sie merkt, dass er diesmal keine Ruhe gibt, fängt sie an zu erzählen.

 

Ein Geschenk zur Konfirmation

Das Besteck hatte ihr 1938 ein Großonkel zur Konfirmation geschenkt. „Gutes Besteck gehörte damals zur Aussteuer.“ Am Kaffeetisch hatte der Onkel damit geprahlt, wie billig er an das Silber gekommen war. „Diesen Juden habe ich sogar noch einen Gefallen getan, als ich ihnen das Zeug abgekauft habe. Die brauchen Geld für die Auswanderung.“ Aber sie musste damals das kostbare Geschenk dem Onkel zurückgeben. „Unrecht Gut gedeiht nicht“, hatten die Eltern gesagt, ohne weitere Erklärungen.

Nach dem Tod des Onkels war das Silberbesteck doch irgendwie in die Familie gekommen. Sie hatten es auf der Flucht in den Westen mitgenommen; wer weiß, wozu man es einmal eintauschen konnte.

Nun ist er es, der auf das Silber starrt. Ganz deutlich sieht er alle vor sich: Den Onkel, der ein Schnäppchen machen will und dabei die Notlage anderer ausnutzt, die bedrohte jüdische Familie, das enttäuschte Kind, die konsequenten Eltern. Wo hätte er gestanden?

 

„Unrecht Gut gedeiht nicht“

„Unrecht Gut gedeiht nicht.“ Dieser Satz hallt in ihm nach. In seiner Familie ist der christliche Glaube fest verankert, über Generationen hinweg. Das Tischgebet, der Kirchgang, die christlichen Feste – darauf hatten schon seine Grosseltern Wert gelegt. Und doch hatte sich einer von ihnen auf Kosten anderer bereichert. Noch schlimmer: Dieses Unrecht war dem Onkel vielleicht nicht einmal bewusst gewesen; schließlich handelten viele so. Vielleicht hatte er 1938 wirklich geglaubt, der jüdischen Familie sogar noch einen Gefallen zu erweisen. Wie er wohl nach dem Krieg darüber gedacht hat?

„Führe uns nicht in Versuchung“

Andere wiederum ließen sich in den schlimmen Jahren nicht täuschen. Auf welcher Seite hätte er wohl gestanden? Er tut sich schwer mit der Antwort. Die ganze Familie kannte doch das biblische Gebot: „Es ist Dir gesagt, Mensch, was Gott von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor Gott“ (Micha 6,8). Und trotzdem handelten einige völlig entgegengesetzt. Vielleicht sogar im Glauben, das Richtige zu tun.

Gut, dass er nun das Silberbesteck der jüdischen Familie geerbt hat. Auch wenn er damit kaum noch unbefangen den Tisch decken wird. Seine Mutter hat recht: Als Tischdekoration brauchen sie das Silber nicht. Aber es ist eine Erinnerung an schlimme Zeiten. Sie taugt dazu, den Unterschied zwischen Gut und Böse zu begreifen und dem Selbstbetrug auf die Spur zu kommen. Denn sie werden auch in Zukunft beten, wie es im Vaterunser heißt: Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Amen.