„Ich bin kein Heiliger“, sagt der gepflegte ältere Herr und zwinkert mir dabei mit den Augen verschwörerisch zu. Vermutlich will er mir damit sagen, dass er es mit den Steuern nicht so genau nimmt oder mit der Treue. Ich nicke knapp mit dem Kopf.
Wir sind in einem Frankfurter Café miteinander ins Gespräch gekommen. Als er hörte, dass ich evangelischer Pfarrer bin, sah er sich wohl zu diesem „Geständnis“ genötigt: `Ich bin kein Heiliger´. Das höre ich nicht zum ersten Mal. Meist sind es ältere Männer, die mir damit zu verstehen geben, dass… Ja, was eigentlich? Wohl dass sie ihr Leben nicht nach einem irgendwie christlich gedachten Tugendkatalog führen. Für sie ist der christliche Glaube offenbar hauptsächlich ein moralisches Programm. Wer es erfüllt, ist ein Heiliger. Und wer es damit nicht so genau nimmt, der ist eben kein Heiliger.
Ich mag diesen Satz nicht. Deshalb gehe ich auf ihn normalerweise nicht ein. Aber in diesem Moment im Café platzt mir innerlich der Kragen. Deshalb frage ich den Mann, der kein Heiliger sein will: „Sind sie getauft?“ Die Frage überrascht ihn sichtlich. Dann antwortet er: „Ja, natürlich. Als kleines Kind schon. Wie sich das gehört“.
„Dann“, so antworte ich ihm, „sind sie auch ein Heiliger. Egal was sie gemacht haben.“ Meine Worte verblüffen mein Gegenüber. Und ich merke, dass sie ihm nicht recht behagen. Also frage ich ihn: „Der Gedanke, ein Heiliger zu sein, gefällt Ihnen offenbar nicht so recht. Warum?“
Meinem Gegenüber huscht ein Lächeln über das Gesicht. Offenbar hat er Freude daran, ein offenes Gespräch zu führen. Er antwortet: „Ehrlich gesagt: Es ist ganz angenehm kein Heiliger zu sein. Das gibt Spielraum, Dinge zu tun, die einem Spaß machen, obwohl man sie eigentlich nicht tun sollte. Wenn man immer nur tut, was erlaubt ist, dann ist das Leben ziemlich langweilig. Finden sie nicht auch?“ Erwartungsvoll schaut er mich an. Vielleicht denkt er, mir als Pfarrer damit eine Falle gestellt zu haben: Muss ich nicht schon von Berufs wegen ein Heiliger sein – und damit langweilig?
Ich antworte: „Niemand tut immer nur das, was richtig ist. Aber das ist mit heilig ja auch nicht gemeint. Heilig sind die Menschen, die getauft sind.“
„Nun kommen sie mir schon zum zweiten Mal mit der Taufe“, knurrt der Mann. „Was hat das damit zu tun?“
„Ganz einfach“, entgegne ich. „Denken Sie an das Glaubensbekenntnis. Darin bekennen Christen `die heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen´. Das sagen sie nicht, weil sie alle perfekt wären, sondern schlicht weil sie getauft sind. Denn damit tragen sie das Zeichen von Gottes Liebe an sich – und das macht sie zu Heiligen. Es ist schön ein Heiliger zu sein, denn das bedeutet: Ich bin mir der Liebe Gottes bewusst.“
Mein Gesprächspartner fragt nach: “Ja, und? Was nutzt ihnen das? Dann ist ja fast jeder heilig. Das ist keine Kunst.“
„Stimmt“, sage ich. „Und: Stimmt nicht. Stimmt, weil es in der Tat keine Kunst ist. Heilig Sein ist keine Belohnung für eine besondere Leistung. Man bekommt es geschenkt. Aber damit fängt die Geschichte ja erst an. Denn wenn man nun schon mal heilig ist, dann ist es ja auch richtig ein Heiliger zu sein. Und das ist dann doch wieder nicht so einfach. Aber es fühlt sich großartig an. Denn da kann sie niemand mehr wirklich demütigen. Und nichts kann sie wirklich unterkriegen, weil sie immer wissen: ´Ich bin getauft. Ich bin ein Heiliger. Ich bin geliebt von Gott. Das kann mir niemand nehmen´. So hat es Martin Luther gemacht, der Reformator. Wenn er am Ende war, hat er einen Stift genommen und auf ein Blatt Papier geschrieben: `Ich bin getauft´. Das war seine eiserne Ration für die Seele.“
Mein Gegenüber sagt: „Eiserne Ration für die Seele, das klingt gut. Aber man weiß ja nicht, ob sie einem im Ernstfall wirklich hilft.“
Da kann ich nur antworten: „Ausprobieren. Hoffen. Man nennt es: Glauben.“