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Ausschwitz: Vor 80 Jahren befreit, aber nicht vergangen
Der Holocaust bringt bis heute neue Opfer und Täter hervor.
27.01.2025 06:35

Die Folgen des Holocausts befeuern bis heute Hass, Konflikte und Kriege. Unser Autor hat das im Libanon erlebt.

 
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Eine gut gelaunte Reisegruppe ist hungrig und freut sich auf das Essen. Doch das kommt nicht. Zu der Reisegruppe gehöre auch ich. Wir sitzen in einem Restaurant am Mittelmeer, im Libanon. Das ist wenige Jahre her. Da konnte man dieses Land noch gut besuchen, seine uralte Kultur bestaunen, seine moderne Vitalität erleben und seine levantinische Küche genießen.

 

Doch die Kellner – zwei junge Libanesen – ignorieren ihre Gäste. Bis unser libanesischer Reiseleiter mit ihnen spricht. Danach sind sie wie ausgewechselt. Sie hatten gedacht, wir kämen aus den USA. Und weil die USA mit Israel paktieren, wollten sie uns nicht bedienen. Deutsche waren ihnen dagegen herzlich willkommen. Denn wir Deutschen hatten uns Jahrzehnte zuvor alle Mühe gegeben, so viele Juden zu ermorden wie möglich.

 

Als ich diesen Zusammenhang erfahre, bin ich tief beschämt. Am liebsten würde ich weggelaufen: aus dem Restaurant, aus dem Nahostkonflikt, aus der ganzen antisemitischen Mordgeschichte, aus ihren Folgen bis heute. Doch das geht nicht. Man muss es erinnern und daraus lernen. Insbesondere heute, am UNO-Gedenktag für die Opfer des Holocaust. Denn heute vor 80 Jahren wurden die Überlebenden des Konzentrationslagers in Auschwitz befreit. Zu diesem Tag gehört so viel: Freude und Leid, Entsetzen und Scham. Für mich gehört auch die Sehnsucht dazu, jeglichen Hass, Antisemitismus und Rassismus zu überwinden.

 

Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, legten sie sofort los. Sie grenzten systematisch Menschen jüdischer Herkunft aus der Gesellschaft aus. Durch Berufsverbote, Heiratsverbote, Enteignungen, dann in Ghettos, in Viehwaggons, in KZ-Baracken und schließlich in Gaskammern. Alle sollten umkommen: Kinder und Alte, Frauen und Männer, Reiche und Arme, Kommunisten und Bürgerliche. Nur ein einziges Kriterium zählte: jüdische Herkunft.

 

Dieses antisemitische Morden endete im April 1945. Bekannt ist es heute weithin als Holocaust. Der Irrsinn lebt fort. Bis heute vergiftet er Köpfe, Seelen und Herzen in Deutschland, Europa, in vielen Ländern. Er ist eingesickert in das politische Handeln, vornehmlich im Nahen Osten, mit Folgen für die gesamte Welt. So schürt der Holocaust weiterhin Hass und Krieg. Er befeuert die Narrative von immer neuen Opfern und Tätern. Viele von ihnen sind längst beides zugleich.

 

Deshalb sitzt der Holocaust auch in dem libanesischen Restaurant mit am Tisch. Dort wird nun das Beste aufgetischt, was der Mittelmeerraum zu bieten hat. Aber es will mir nicht schmecken. Denn ich schäme mich – zuallererst gegenüber den Opfern der ersten Stunde. Aber inzwischen auch gegenüber denen, die Jahrzehnte später und Tausende Kilometer entfernt mit hineingezogen werden in die andauernde Schuldgeschichte des Holocaust.

 

Ein Bibelwort (1) geht mir durch den Kopf: "Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern, an der dritten und vierten Generation von denen, die mich hassen." Darin steckt viel historische Erfahrung. Schuld wirkt lange nach, sogar über Generationen hinweg. Sie wirklich zu überwinden, verlangt viel menschliche Größe. Vielleicht sogar übermenschliche: die Bereitschaft, nicht zu hassen, sondern sich gegenseitig anzuerkennen. Doch genau dafür wirbt Gott, denn der Bibelvers geht so weiter: "Der HERR erweist aber Gnade an Tausenden von Generationen von denen, die Gott lieben und seine Gebote halten." Versöhnung wirkt also viel länger als Hass.

 

Viele beherzigen das – Menschen im Libanon, in Syrien und in Israel. Sie widersetzen sich der Logik des Hasses. Sie wollen respektvoll und friedlich miteinander leben. Die eigentliche Konfliktlinie im Nahen Osten verläuft nicht zwischen Israelis und Palästinensern, nicht zwischen Juden und Muslimen oder Christen. Die eigentliche Konfliktlinie verläuft zwischen denen, die Hass und Krieg betreiben, und denen, die Frieden und ein gemeinsames Miteinander wollen. Den Friedensstiftern gehört die Zukunft, so hoffe ich.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literaturangaben:

  1. Nach 2. Mose 20,5f.

 

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