Ein Waldspaziergang zwischen den Jahren. Und auf einmal geht der Sinn des Lebens in Person mit. Ein Zwiegespräch kurz vor Jahreswechsel über das, was bleibt.
Nach der Ausstrahlung können Sie an dieser Stelle die Sendung nachlesen.
Im Winter gehe ich gerne im Wald spazieren. Ich mag die kühle Luft, die kahlen Bäume, den nebligen Dunst. Dazu die Stille. Ein guter Ort, meine Gedanken schweifen zu lassen. Das habe ich gerade auch bitter nötig. Denn ich habe zugesagt, über den Sinn des Lebens zu sprechen. Doch nun stellt sich heraus: Das ist gar nicht so einfach, wie ich dachte. Kaum habe ich Worte für den Sinn gefunden, verflüchtigt er sich wieder. So gehe ich in Gedanken durch den winterlichen Wald. Plötzlich höre ich hinter mir Schritte. Sie holen auf. Eine Person kommt mir viel näher, als es hier im Wald üblich wäre. Deshalb spreche ich sie an: "Hallo, kennen wir uns?" Die Person ist etwa so alt wie ich.
Sie antwortet: "Sagen wir es so: Wir haben schon viel miteinander zu tun gehabt. Aber wir kennen uns noch nicht so richtig. Dafür ist jetzt endlich der richtige Zeitpunkt gekommen, das hoffe ich zumindest." Ich bin überrascht, überlege blitzschnell: Wo bin ich dieser Person schon mal begegnet? Aber ohne Erfolg. Da ergreift die Person wieder das Wort: "Ich folge Ihnen schon seit ein paar Jahrzehnten. Allerdings haben Sie mich bislang wenig beachtet. Es war sehr mutig von Ihnen, etwas über den Sinn des Lebens sagen zu wollen, ohne mit mir vorher darüber zu sprechen."
Meine Verblüffung steigt, meine Neugier auch: "Wer sind Sie?"
"Ich bin Ihr Sinn. Der Sinn Ihres Lebens."
Verblüfft stehe ich im winterlichen Wald. Nun nicht mehr allein, denn neben mir steht jemand. Der stellt sich als der Sinn meines Lebens vor. Ich frage ihn: "Wieso kommen Sie gerade jetzt auf mich zu?" Seine Antwort: "Wer glücklich ist, fragt meistens nicht nach dem Sinn. Sondern lebt ihn einfach. Aber Sie fragen gerade danach. Und damit lasse ich Sie nicht hängen. Das habe ich noch nie getan. Ich gebe zu: Manchmal habe ich Sie etwas zappeln lassen. Am Ende aber doch immer getragen. Sie brauchen mich jetzt. Gerade eben haben Sie nach mir gerufen.
Laut haben Sie gesagt: ‚Das macht doch alles keinen Sinn‘! Da dachte ich: Jetzt ist der richtige Moment." Ich erinnere mich. Ja, das habe ich halblaut vor mich hingesagt. Die Schlagzeilen der Welt vor Augen.
Zu viele ungelöste Probleme, zu viel Not. Viele Jahre lang habe ich gehofft und mich selbst auch dafür eingesetzt, dass die Menschheit friedlicher wird. Dass die Notleidenden ein besseres Leben haben. Und dass die Schöpfung nicht zugrunde geht, sondern wächst und gedeiht und lebenswert ist – auch für die Kinder und Enkel auf dieser Welt. Doch es ist anders gekommen. Mir ist schleierhaft, wie sich das Ganze wieder zum Guten wenden soll. Deshalb mache ich mir große Sorgen – nicht so sehr um mich, denn ich habe schon viel gutes Leben hinter mir.
Aber ich habe Kinder und Enkel. Denen und allen anderen Jüngeren wünsche ich gute Chancen auf einer intakten Erde. Deshalb treibt mich die Frage um: Wie finde ich in all dem einen Sinn? Die Person neben mir, die mein Sinn sein will, sagt: "Jaja, das große Ganze. Wir kommen darauf zurück. Aber für den Anfang ist mir das etwas zu groß. Fangen wir lieber woanders an. Als Erstes will ich Ihnen mal sagen: Sie sind ein angenehmes Sorgenkind. So nennen wir Sinnstifter unsere Schützlinge – zugegeben ein wenig ironisch, aber liebevoll. Sie sind nicht ganz einfach. Eher anspruchsvoll. Aber genau das mag ich. Sie fragen nach. Sogar mit Gott rechnen Sie. Da ist meine ganze Kunst gefragt. Manche meiner Kolleginnen und Kollegen beneiden mich darum." Ich hake ein: "Es gibt also für alle Menschen einen eigenen Sinn, der sie begleitet - so wie Sie mich?" "Ja", sagt mein Sinn. "Aber lassen Sie uns ein wenig weitergehen. Sonst wird es zu kalt."
Während wir uns auf dem Weg im Winterwald in Bewegung setzen, spricht mein Begleiter weiter: "Viele meiner Kollegen erzählen mir, dass sie kaum etwas zu tun haben. Sie kommen sich also selbst quasi sinnlos vor. Denn ihre Sorgenkinder fragen gar nicht nach ihnen. Manchen geht das Leben einfach so gut von der Hand. Anderen ist es offenbar zu anstrengend, danach zu fragen. Viele sorgen dafür, dass ihre Seele nie zur Ruhe kommt. Augen und Ohren, Herz und Verstand werden ständig beschäftigt. So haben Sie ja auch zeitweise gelebt. Aber jetzt lassen Sie Lücken zum Nachdenken und zum Fragen. Großartig. Damit können wir arbeiten." Sein Lob schmeichelt mir.
Neugierig frage ich meinen angeblichen Sinn: "Wie arbeiten Sie und Ihre Kolleginnen - zumindest mit denen, die das wollen?" Mein Wegbegleiter führt aus: "Beim Sinn geht es immer um Orientierung: Habe ich für mein Leben eine klare Richtung? Deshalb stellen wir am Anfang immer die grund-legende Frage: Wozu ist Ihr Leben gut? Mit Betonung auf GUT. Man kann die Frage auch emotionaler formulieren. Dann lautet sie so: Wie gestalten Sie Ihr Leben so, dass Sie Ja dazu sagen können?" Mir entfährt der Satz: "Schon das ist keine leichte Aufgabe – zumal in diesen aufgewühlten Zeiten."
Wir setzen unseren Spaziergang im Wald fort - die Person, die sich als mein Sinn vorstellt, und ich. Die Person ergreift das Wort: "Ja, es ist nicht leicht, einen verlässlichen Sinn für das eigene Leben zu finden. Aber dafür haben wir unsere Methoden. Meist bieten wir einige Standard-Modelle an. Ich nenne Ihnen mal diese fünf: Sie können zum Beispiel Sinn schöpfen aus dem, was Sie tun, sei es bei der Arbeit oder im sozialen oder familiären Bereich. Zum Zweiten können Sie Sinn in Ihren Beziehungen finden – Familie, Freundschaften. Zum Dritten Ihre Gefühle – Sinn schöpfen aus Liebe oder auch aus Hass. Sie können viertens auch Erwartungen erfüllen, die andere an Sie stellen. Das wurde früher öfters gewählt als heute. Aber es wird immer noch gerne genommen. Als Fünftes können Sie Ihr Leben gut bewältigen, erfolgreich sein. Daraus können Sie Ihren Sinn ableiten - mitsamt einem gesunden Selbstbewusstsein." Ich nicke, denn das kommt mir alles sehr vertraut vor, und ich überlege, was davon wohl am besten zu mir passt.
Mit einem Blick zu mir sagt mein Wegbegleiter dann: "Aber Ihnen war das nicht genug. Sie wollten mehr. Sie haben noch die hohen Ideale dazu genommen: Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Nächstenliebe, eine neue Männlichkeit. Damit haben Sie eine gute Sinn-Wahl getroffen. Sie stoßen jedoch gerade an Ihre Grenzen." Mein Begleiter macht eine kleine Pause. Dann fährt er beschwichtigend fort: "Das ist übrigens nichts Ungewöhnliches. Alle Angebote an Lebenssinn bergen ein Risiko. Sie können Ihnen verloren gehen. Ihre große Tatkraft, Ihre Familie und all das andere und auch Ihre Ideale – das alles kann Ihnen abhandenkommen. Dann geraten Sie mit Ihrem Sinn in Turbulenzen." Ich nicke. Zum einen habe ich das bei anderen schon mehrfach miterlebt: Menschen verlieren ihre Lebenskraft, weil ihre Familie auseinanderbricht. Oder die Arbeit geht verloren. Oder die Gesundheit.
Plötzlich verlieren die Betroffenen den festen Boden für ihr ganzes Leben – es erscheint insgesamt sinnlos.
Dann fällt mir etwas auf, und ich frage meinen Begleiter: "Ihre Sinn-Angebote gehen alle irgendwann einmal zu Ende. Spätestens der Tod macht sowieso alles sinnlos, oder?" Mein Begleiter schüttelt energisch den Kopf: "Im Gegenteil! Der Tod ist mein stärkstes Argument. Stellen Sie sich vor, Ihr ganzes Leben ginge immer so weiter. Sie könnten alles irgendwann und immer machen und haben? Ihre berufliche Karriere liefe endlos. Die Liebe in Ihrer Familie sei für immer da. Gerade weil alles begrenzt ist, ist es wertvoll und sinnvoll." Dagegen wende ich ein: "Aber dann haben Ihre Sinn-Angebote nur eine begrenzte Laufzeit." "Korrekt", entgegnet mein Sinn-Begleiter und ergänzt: "Das ist der Preis dafür, dass sie überhaupt einen Sinn für Sie entfalten. Zumindest gilt das für die Angebote, die ich Ihnen bislang genannt habe." Ich spüre, wie ich innerlich rebellisch werde. Für das Leben muss es noch einen Sinn geben, der tiefer gründet!
Der standhält, wenn das Leben ansonsten bröckelt! Mit Nachdruck frage ich meinen Sinn-Begleiter: "Das kann doch nicht alles gewesen sein! Da muss es noch mehr geben! Sie sind der Sinn. Sie müssen wissen, wie es dann weitergehen kann. Also: Wie?"
Im Winterwald bin ich unterwegs. Neben mir her geht mein Sinn in Person. Er lächelt milde und sagt: "Sie wollen also einen Sinn, der über Ihr Leben hinausweist? Gut, dann gehen wir jetzt ein bisschen tiefer in meine Kunst hinein. Eines müssen Sie dabei wissen: Sinn entsteht durch Beziehung. Indem Sie sich verbinden. Indem Sie Ihr Leben mit anderen Leben, ja mit der ganzen Welt verbinden. Das tun Sie ja schon ganz gut, indem Sie Ihre sozialen Kontakte pflegen und sich auch für die Welt interessieren. Sehr wichtig dabei: Mitgefühl für andere. Denn für sich alleine gesehen hat nichts einen eigenen Sinn. Es ist einfach da. Einen tieferen Sinn erkennen Sie darin erst, wenn Sie sich und alles andere als Teil des Ganzen betrachten. Viele tun das. Manche machen das und wollen dabei ohne Gott auskommen. Sie versuchen, den großen Sinn im Gefüge der Welt zu finden. Zum Beispiel in einer Weltformel, in einem Ursprung, der sich selbst ausgelöst hat. Aber ich bin skeptisch, ob die Physik und die Philosophie dafür ausreichen. Mir scheint: Die Welt und überhaupt das ganze Weltall hat keinen Sinn in sich selbst. Dazu braucht es etwas noch Größeres, das alles umspannt und überdauert. Gläubige nennen das ‚Gott‘. Philosophen übrigens auch. Ich bin froh, dass ich Ihnen damit kommen kann. Das macht es uns beiden um einiges leichter."
Die Person, die mein Sinn sein will, zeigt mit ihrer Hand in den Wald, der uns umgibt. Dann fordert sie mich auf: "Schauen Sie sich um. Die Bäume sind jetzt im Winter kahl. Die meisten Blätter liegen am Boden. Jedes Blatt für sich alleine gesehen hat keinen Sinn. Es vergeht und kommt nicht wieder. Sieht man aber das Blatt als Teil des Waldes, gehört es immerhin zum Kreislauf des Lebens. Verstehen wir es sogar als Teil der Schöpfung, dann ist jedes Blatt einzigartig, ein Werkstück göttlicher Phantasie. Es ist eine Liebeserklärung Gottes an das Leben. So ist das mit dem Menschen auch. Teil der Schöpfung zu sein, ein von Gott gewolltes Leben zu sein – das gibt uns einen tieferen, einen sogar unverbrüchlichen Sinn."
Nach diesem langen Monolog macht mein Wegbegleiter erst einmal eine Pause. Schweigend gehen wir nebeneinander her. Seine Worte hallen in mir nach. "Ja", denke ich, "es ist schön, sich nicht für einen zeitlich begrenzten Zufall der Natur zu halten, sondern für ein von Gott gewolltes Wesen. Das Leben als Geschenk Gottes, als Auftrag Gottes – das ergibt viel Sinn." Aber sich dabei auf einer Stufe mit den Blättern im Wald zu sehen, klingt doch etwas kränkend. Das sage ich auch meinem Sinn-Begleiter.
Der antwortet: "Schon, dass Sie das erkennen und darüber unzufrieden sind, führt Sie zurück zu Gott. Was Gott in der Bibel über Sie und die Menschen insgesamt sagt, wertet Sie ungeheuer auf. Die Schöpfungserzählung in der Bibel bezeichnet den Menschen als Ebenbild Gottes. Psalm 8 stuft den Menschen kaum niedriger als Gott ein. Die Glaubenszeugnisse in der Bibel stecken voller Hochschätzung für Sie."
"Übrigens", werfe ich aus meinem theologischen Wissen ein, "Das gilt nicht nur für die Starken und Erfolgreichen. Sondern das wird allen Menschen zugesprochen, nicht als verdiente Auszeichnung für besonders gute Leistungen, sondern als unverbrüchlicher Zuspruch Gottes." "Ganz wichtig", sagt mein Sinn: "Unverbrüchlich. Diesen Sinn kann Ihnen niemand nehmen. Ich sage es mal so: Sie sind Gott wie aus dem Gesicht geschnitten." "Das kann man leicht behaupten", gebe ich zu bedenken, "denn sehen kann ich Gott ja nicht." "Doch", widerspricht mein Begleiter.
Kann ich Gott, dessen Ebenbild ich laut Bibel sein soll, sehen? "Ja", behauptet mein Begleiter, "wenn auch immer nur in kleinen Ansichten. Nie das Ganze, aber immerhin Teile vom Ganzen Gottes." Mein Begleiter räumt ein: "Vielen reicht das nicht, ich weiß. Aber das ist die große Kunst des Sinns: Das eigene kleine Leben in Verbindung zu bringen mit dem Allumfassenden, das wir Gott nennen. Weil das so schwer ist, kommt uns Gott entgegen. Er gibt sich ein Gesicht, das Gesicht von Jesus Christus. Er ist der Mensch gewordene Gott, der unter Menschen lebt und als Mensch stirbt. Damit sagt Gott: ‚Ich bin einer von euch. Und ihr seid ein Teil von mir.‘" Den Gedanken meines Wegbegleiters führe ich weiter und sage: "Ich verstehe schon, in Jesus tritt Gott so nahe wie möglich an mich heran und bleibt doch zugleich der große Gott, das Allumfassende, das allem einen Sinn gibt." Mein Begleiter nickt zufrieden und ergänzt: "Mehr Sinn geht nicht. Übrigens: Dieser Sinn stirbt nicht mit Ihnen. Er ist ja auch nicht mit Jesus gestorben. Dieser Sinn ist stärker als der Tod – gilt also für immer. Ich sage es mal so: Gott ist der unendliche Sinn in allem und damit auch in Ihnen."
Das sind wuchtige Worte, denke ich. Gedankenverloren schaue ich auf den Boden und gehe schweigend den Waldweg entlang. Dann schießt es mir wie ein Blitz durch den Kopf. Ich bleibe stehen, drehe mich zu meinem Wegbegleiter und sage: "Wenn es stimmt, was Sie sagen, wenn Gott also der Sinn ist, dann wären Sie ja …" Weiter komme ich nicht, denn ich bemerke, dass ich meine Worte in die Leere das Waldes spreche.
Die Gestalt ist weg. Nein, nicht weg. Nur nicht mehr zu sehen. Sondern tief in mir. Und in diesem winterlichen Wald, der ein stummer Zeuge meiner Sinnsuche ist.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. Wolfgang Amadeus Mozart, Fagott-Konzert B-Dur, 3. Satz "Rondo"
2. W. A. Mozart, Klarinettenkonzert in A-Dur, 2. Satz "Adagio"
3. W. A. Mozart, Oboenkonzert C-Dur, 1. Satz "Allegro aperto"
4. W. A. Mozart, Fagottkonzert B-Dur, Satz "Allegro"
5. W. A. Mozart, Klarinettenkonzert in A-Dur, 2. Satz "Adagio"
Literatur dieser Sendung:
1. Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, C.H.Beck,
3. Auflage 2015
2. Wilhelm Schmid, Dem Leben Sinn geben, Suhrkamp, 1. Auflage, 2013
3. John von Düffel, Das Wenige und das Wesentliche: Ein Stundenbuch, DuMont, 2022