Gemeinfrei via pixabay / Emilia Baczynska
Scheinbar aussichtslos -trotzdem kämpfen?
24.03.2024 06:05

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Teil 1

„Spinnt der oder ist er ein Held?“ Das habe ich mich gefragt, als Alexej Nawalny vor drei Jahren zurück nach Russland ging. Der bekannte russische Oppositionspolitiker hatte zuvor einen Gift-Anschlag nur knapp überlebt. Er wusste also, dass das russische Regime ihn mit allen Mitteln zum Schweigen bringen wollte. Dennoch ging er zurück. Direkt bei der Ankunft wurde er verhaftet. In einem Straflager fand er nun den Tod. Oft wurde er gefragt: „Warum bist du damals nicht im halbwegs sicheren Westen geblieben?“ Darauf antwortete Nawalny stets so: "Ich habe mein Land und meine Überzeugungen." Dafür kämpfte er, auch wenn das scheinbar aussichtslos war.

Szenenwechsel: Ein kleines Wohnzimmer in Hessen. Darin sitze ich zusammen mit einem Elternpaar, das hier wohnt. Abwechselnd weinen sie und versinken in Gedanken. Manchmal murmelt die Frau: „Wir hätten sie nicht alleine lassen dürfen. Hätten wir doch mehr um sie gekämpft!“ Der Mann nickt: „Vielleicht hätten wir es ja nicht geschafft. Aber dann könnten wir jetzt wenigstens sagen, dass wir alles versucht haben.“ Die beiden trauern um ihre Tochter, die an einer Überdosis Rauschgift gestorben ist. Sie hatten gegen Ende den Kontakt zu ihr verloren. Nun machen sie sich Vorwürfe.

Szenenwechsel: Ein Wald in der Nähe von Gießen. Auf einem Baum sitzt eine Frau. Sie protestiert. Denn dieser Baum soll gefällt werden – und mit ihm viele mehr. Sie sollen Platz machen für ein Stück Autobahn. Die Frau sagt: „Ich weiß, dass der Bau der Straße demokratisch beschlossen wurde. Aber das ist viele Jahre her und heute würde das anders entschieden. Sie sagt auch: Ich weiß, dass ich den Bau nicht verhindern werde. Aber ich muss hier sitzen, frieren, warten, mich wegzerren und anzeigen lassen. Denn ich muss zeigen, dass ich es für fatal halte, was hier geschieht. Nichts zu tun könnte ich mir nicht verzeihen.“

Die Umwelt-Aktivistin, die Eltern eines Drogenopfers und der russische Regime-Kritiker – so unterschiedlich die drei Situationen sind, es geht um eine gemeinsame Frage: Ist es sinnvoll für etwas zu kämpfen, auch wenn das allem Anschein nach aussichtslos ist? Dieser Frage gehe ich heute nach. Nicht zufällig, denn heute ist Palmsonntag, der Beginn der Karwoche. An diesem Tag hat Jesus diese Frage für sich entschieden.

 

Teil 2

Die Lage spitzt sich zu. Spannung liegt in der Luft. Das Finale steht bevor. Denn Jesus und seine Anhänger sind auf dem Weg nach Jerusalem, in die Hauptstadt. Am Abend lagern sie in Bethanien. Das liegt nur noch wenige Kilometer östlich der Stadt. Dort sitzt der innerste Führungskreis beieinander und berät, was als nächstes zu tun ist. So könnte ihre Lagebesprechung verlaufen sein:

Maria Magdalena, die sich Sorgen macht, könnte gefragt haben: „Ist es wirklich richtig in die Hauptstadt zu gehen? Haben wir dort überhaupt eine Chance? In Jerusalem sitzt der Statthalter der Römer, ihre Soldaten sind überall auf den Straßen. Die Besatzungsmacht will, dass Ruhe herrscht. Sie wird jeden Aufruhr im Keim ersticken und alle Aufrührer töten. Dazu sitzt am Tempel unser Hoher Rat. Der ist ebenfalls nervös, denn Jesus stellt ihre religiöse Autorität in Frage. Auch die Hohenpriester werden sich wehren. Kann das gutgehen?“

Petrus, der Fischer, der sich mit Stürmen und Gefahr auskennt, könnte gesagt haben: „Wir müssen nach Jerusalem gehen. Weil dort alle Entscheidungen fallen. Bisher sind wir nur herumgezogen – durch das Land. Wir waren in den Dörfern und in den kleinen Städten. Nun ist die Hauptstadt dran.“

Judas, der die gemeinsame Kasse führt und politisch denkt, könnte ergänzt haben: „Genau. Denn jetzt klärt sich, wer wir sind. Bislang hat Jesus einige Menschen geheilt und gezeigt, was in ihm steckt. Er hat den Leuten Hoffnung gemacht auf ein besseres Leben. Jetzt stellt sich die Frage: Helfen wir nur Menschen, denen wir unterwegs zufällig begegnen? Oder wollen wir das ganze Land verändern? Wenn ja, dann müssen wir jetzt nach Jerusalem gehen. Das ist zwar gefährlich. Aber wir müssen da hin.“

Johannes, den die Bibel eher als sanft und einfühlsam beschreibt, könnte eingewendet haben: „Mache es nicht zu dramatisch. Wir sind nicht bewaffnet.

Wir greifen niemanden an. Wir helfen Menschen, wir machen ihnen Mut. Mehr nicht. Das Volk in Jerusalem wird uns willkommen heißen und sich uns anschließen.“

Petrus wiegt bedächtig den Kopf und sagt: „Unser Ruf ist längst bis in die Hauptstadt vorgedrungen. Viele sehen in Jesus nicht nur einen Wohltäter der Mühseligen. Und wir sind nicht nur eine sympathische Bewegung von Menschenfreunden. Viele sehen uns als Aufständische.“

Judas erwidert: „Aber sind wir das nicht auch? Wir haben es laut gesagt: Der Glaube an Gott besteht nicht allein darin, fromm zu beten und das Leben zu erdulden, sondern Gott ist ein Menschenfreund und will Gerechtigkeit.“

Johannes greift das auf: „Du willst nicht nur Menschen trösten, sondern auch das System verändern. Das bedeutet Kampf gegen die bisherigen Machthaber. Die werden das nicht so einfach hinnehmen.“

Maria Magdalena sagt: „Das klingt nach etwas ganz Großem. Und nach einem Kampf, den wir nicht gewinnen können.“

Petrus winkt ab: „Wenn wir das jetzt nicht machen, dann zerfällt unsere Bewegung in ein paar Jahren. Dann wird alles wieder so wie immer. Ich will etwas anderes erreichen, etwas Bleibendes.“

Die Runde schweigt eine Weile: Petrus der Kämpfer und Johannes der Sanfte und Judas der Stratege und Maria Magdalena die Besorgte. Dann wendet sich Maria Magdalena direkt an Jesus und fragt ihn: „Was denkst Du über uns – und über dich?“

 

Teil 3

Was mag Jesus in Jerusalem erwartet haben? Einen begeisterten Empfang? Dass er die Oberen des Glaubens von seinen Ideen überzeugen könnte? Oder hatte er den Tod vor Augen? Dachte er womöglich darüber hinaus? Den Tod am Kreuz nicht als Ende, sondern als nötigen Moment der Finsternis, aus dem heraus er auferstehen würde. Das lässt die Bibel offen. Die Evangelisten berichten sowohl von Vorahnungen des Todes als auch des ewigen Lebens. Bekannt ist jedoch, was Jesus getan hat.

Er geht am nächsten Tag mit seinen Anhängern nach Jerusalem. (Matthäus 21,9ff/Markus 11,1ff/Lukas 19,28ff/Johannes 12,12ff) Von Bethanien aus überqueren sie den Ölberg. Oben auf der Höhe sehen die Stadt schon vor sich liegen. Vor der Stadtmauer erhebt sich Golgatha. Eine kleine Anhöhe, auf dem die Todgeweihten am Kreuz hingerichtet werden. Zu ihnen wird fünf Tage später auch Jesus gehören. Doch heute, beim Einzug Jesu in die Stadt, bleibt dieser dunkle Ort noch still im Hintergrund. In den Vordergrund schieben sich die begeisterten Menschen, die Jesus folgen und die ihm entgegeneilen.

Die Ankunft in Jerusalem beschreiben die Evangelisten als Triumphzug. Ein bescheidener allerdings. Denn Jesus reitet nur auf einem Jung-Esel. Aus gutem Grund. Frühere Propheten hatten angekündigt, dass der jüdische Messias auf einem solchen Tier geritten käme. (Jesaja 62,11/Sacharja 9,9) Diese Prophezeiung erfüllt Jesus nun. Als Jude bleibt er in der jüdischen Tradition, er will sie lediglich neu beleben. Die Menschen am Wegesrand verstehen das. Sie lassen Jesus hochleben als Nachfahre des legendären Königs David. So skandieren sie: „Hosianna, gelobt sei der Sohn Davids.“ Spätestens jetzt muss allen Beteiligten klar gewesen sein: „Das hier ist keine unpolitische Glaubensbewegung. Das hat Potenzial die bestehende Ordnung zu verändern.

“ Unter Hosianna-Rufen erreicht Jesus die Stadt. Unbehelligt bewegt er sich dort, geht in das religiöse Zentrum, den Tempel, und wieder hinaus. Jedoch immer beobachtet von der römischen Besatzungsmacht und vom Hohen Rat, der obersten jüdischen Autorität. Dann kippt die Stimmung. Aus Begeisterung wird Verachtung. So beschreiben es die Evangelisten. Der Marsch auf Jerusalem führt Jesus in die römischen Folterkeller und zur Hinrichtung am Kreuz. Was tun die, die ihm gefolgt sind?

 

Teil 4

Jesus ist verhaftet. Was tun die anderen? Alle kämpfen auf ihre Weise mit der Situation. Der Jünger Judas, der politische Stratege, schlägt sich auf die andere Seite und verrät ihn. Petrus, der Kämpfer, verleugnet Jesus, weil er seine Haut retten will. Dagegen bleiben Maria Magdalena und Johannes bei Jesus. Am Ende stehen die beiden sowie andere Frauen beim Kreuz und trösten einander. (Johannes 19,25ff) Wer ein Held ist und wer nicht, entscheidet sich eben erst, wenn es soweit ist.

In der ersten Rückschau erscheint der Gang nach Jerusalem als ein Desaster. Jesus kommt dabei ums Leben. Die Jesus-Bewegung löst sich auf. Zerplatzt sind ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben, die mit Jesus verbunden waren. Die Mächtigen haben triumphiert. So sieht es zumindest nach der Logik dieser Welt aus.

Aber in der zweiten Rückschau entsteht ein anderes Bild. Was zunächst wie ein Desaster erschien, bereitet den Boden für einen Sieg ganz anderer Art. Dabei erwächst eine Hoffnung, die weit größer ist als die, die es vorher gab. Gott holt Jesus aus dem Grab heraus und zu sich. Darauf beginnen viele Menschen nun auch, für sich zu hoffen. Die Hoffnung wächst und die Angst schwindet. Im Leben und im Sterben.

Das ermutigt Menschen, die Botschaft von der Liebe Gottes nicht nur Jesus zu überlassen, sondern auch selbst in die Hand zu nehmen. Was Jesus gelebt hat, überdauert ihn. Es bleibt in der Welt - als Vorbild und als Hoffnungsschimmer. So zeigt sich: Ob ein Weg aussichtslos ist oder nicht, und wohin er am Ende führt, das entscheidet sich erst, wenn man ihn gegangen ist.

Der Einzug Jesu in Jerusalem hat eine lange Wirkungsgeschichte. Sein mutiger Weg in den Tod wurde zum Vorbild für Christinnen und Christen in Bedrängnis: Hast Du den Mut jederzeit zu Deinem Glauben zu stehen? Oder knickst du ein? Diese Bekenntnisfrage hat Märtyrer hervorgebracht, die zu Heiligen verklärt wurden. Und sie hat Gläubige hervorgebracht, die abschätzig Lapsi genannt wurden, weil sie nicht standhaft genug waren. Sei es aus Feigheit oder aus Klugheit.

Doch es gibt nicht nur diese beiden Alternativen bei der Frage: Gehe ich einen Kampf ein, auch wenn er scheinbar aussichtslos ist? Dabei ist mehr zu berücksichtigen.

 

Teil 5

In jedem Menschen ist ein Überlebenstrieb angelegt. Viele gehen deshalb möglichst geringe Risiken ein und vermeiden Kämpfe lieber. Aber es auch gibt Situationen, in denen spürt man:

„Wenn ich mich jetzt nicht riskiere, schlägt mein Herz zwar noch, aber ich habe mich verloren.“ Bei den meisten wird das nicht so oft vorkommen. Eher besteht eine andere Gefahr: dass jemand die eigene Überzeugung zu sehr überhöht. Man muss sich sorgfältig prüfen: Wie wertvoll und wichtig ist meine Überzeugung, für die ich mich zum Kämpfen rüste? Hänge ich möglicherweise meinem Dickschädel nur ein edles Mäntelchen um? Zum furchtbaren Extremfall dafür werden Selbstmordattentäter oder andere Extremisten.

Deshalb plädiere ich für Nüchternheit. Oft gibt es sachliche Argumente. Damit mussten sich auch die Eltern befassen, die ich besucht habe. Nach dem Tod ihrer drogenabhängigen Tochter sitzen wir zusammen. Die beiden überlegen, ob sie etwas falsch gemacht haben. Hätten sie noch mehr kämpfen oder eher früher loslassen sollen? Das ist das große Dilemma derer, die Menschen mit einer Sucht begleiten. Den Eltern ist es nun besonders wichtig, dass sie es sich nicht zu leicht gemacht haben. Kämpfen oder Loslassen? Im Gespräch finden wir heraus, dass beide Wege schwer zu gehen sind.

Beide Wege geht man aus Liebe und beide bedeuten Kampf – wenn auch auf unterschiedliche Weise. Alle Wege können scheitern. Doch erst im Nachhinein weiß man, was richtig gewesen wäre. Vielleicht findet man es nie heraus. Trotzdem ist es richtig, alle Aspekte nüchtern abzuwägen. Und wenn es nichts mehr zu retten gibt, muss man aufhören zu kämpfen und loslassen. Wann ist es soweit? Diese Entscheidung kann einem niemand abnehmen.

Alexey Nawalny hat seine Entscheidung getroffen. Er ist seinen Weg konsequent mit einem entschlossenen Lächeln gegangen. Bis in den Tod. Warum? Das hat er in einer Rede vor Gericht begründet. Als Schlüsselsatz für seinen Kampf nannte er diesen: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ Ein Satz Jesu aus der Bibel, aus der Bergpredigt. Diesen Satz bezeichnete Nawalny als seine „Handlungsanweisung“. Er ergänzte wörtlich: „Ich habe das Gebot nicht verraten.“ „Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ Darin sah Nawalny eine Verheißung für die Menschen in Russland und sich selbst sah er als dessen Zeuge. Das verband ihn auch mit Gott. Der frühere Atheist Nawalny hatte im Glauben an Gott seine Widerstandskraft gefunden – und seine Zuversicht. Man wird sehen, was aus diesem Lebenszeugnis wird.

Es gibt Situationen, die verlangen einem ab zu kämpfen, auch wenn die Erfolgsaussichten gering sind. Einfach weil Wesentliches auf dem Spiel steht. Weil es getan werden muss. Oder weil es eben doch noch ein Fünkchen Hoffnung gibt. Dieses Fünkchen kann ganz groß werden. Das zeigt der Einzug Jesu in Jerusalem. Was zunächst aussieht wie ein chancenloser Weg, wie ein verlorenes Leben - das entpuppt sich als Beginn eines neuen Kapitels zwischen Gott und den Menschen. Oft zeigt erst die Rückschau, was wirklich möglich ist. Und in seltenen Fällen ebnet man damit Gott sogar den Weg ein Wunder zu tun.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

   1. Alessandro Besozzi, Sonate C-Dur, Andante
   2. Carlo Tessarini, Sonate D-Dur, Allegro
   3. Alessandro Besozzi, Sonate C-Dur, Allegro
   4. Tommaso Albinoni, Konzert F-Dur, Allegro
   5. Alessandro Besozzi, Sonate C-Dur, Allegretto

Literatur dieser Sendung:

   1. Die ZEIT, Christ & Welt, 22. Februar 2024, Seite 3 Quelle zu Nawalny