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Ein alter Mann – im Weihnachtszimmer – gedeckter Tisch und Tannenbaum, alles festlich geschmückt. Er steht am Fenster, allein, und wartet auf seine Kinder. Aus ihnen ist etwas geworden – einer ist Klinikarzt, die Tochter verdient gut und hat eine eigene Familie. Der andere Sohn ist weltweit unterwegs, im Management. Alle in der Rushhour des Lebens – da wird die Zeit knapp. Eine Karte, eine Nachricht auf den Anrufbeantworter – sie denken an den Vater, aber er bleibt allein. Alle Jahre wieder. Aber diesmal ist alles anders, da kommen sie tatsächlich nach Hause, die drei. Der alte Mann hat zu einem Trick gegriffen und seinen Kindern die eigene Todesanzeige geschickt. Und da kommen sie. Mit dem Auto, dem Flieger – aus aller Welt. Die Familie versammelt sich um den Tisch, sie essen, erzählen und lachen zusammen.
Mit einem Schlag ist klar, worauf es wirklich ankommt. Der kurze Clip war die Weihnachtswerbung, von Edeka, vor drei Jahren. Klar, die Speisen und Getränke gibt es im Supermarkt um die Ecke – aber erst die Tischgemeinschaft macht den Weihnachtstisch so schön. Das weiß auch Edeka; beim aktuellen Spot geht es dann auch wieder um die Gans, die gefüllte. Ich sehe den vollen Einkaufswagen, überlege, was ich selbst noch besorgen muss – und schon steht mir vor Augen, was sonst noch alles geplant, verabredet, gemanagt werden muss in den nächsten zwei Wochen. Die Feiern in Familie, Gemeinde und Betrieb, die letzten Grüße und Geschenke. Viele haben schon im November mit den Einkäufen angefangen, weil die To-do-Listen immer länger werden. Da kamen die Rabatte am Black Friday sehr gelegen. Die Einkaufszentren waren schwarz vor Menschen. Ob das hilft, entspannter auf Weihnachten zuzugehen?
„Mehr Raum für mich“, benennt eine Frauenzeitschrift das Problem und schlägt Yoga zur Entspannung vor. (1) Das mag der Einzelnen helfen. Aber viele haben das Gefühl, selbst gar nicht mehr vorzukommen vor lauter Angst, nicht alles zu schaffen. Und bald jeder zweite schafft’s nur noch, weil er die Weihnachtseinkäufe im Internet abarbeitet. Susanne Ackstaller macht’s anders. Sie will lieber „Feste feiern statt feste einkaufen“. Sie ist angewidert vom Kaufrausch und schreibt auf ihrem Blog (2):
„Ehrlich gesagt war ich noch selten so angewidert von unserem Konsumverhalten. Kaufenkaufenkaufen als ginge es um unser Leben – und nur der überlebt, der möglichst viele Rabatte einlöst. Abstoßend ist das. Ich habe auf jeden Fall beschlossen, diesen Advent lieber mit lieben Freunden zu verbringen, mit leckerem Essen und guten Gesprächen. Collect moments. Not things.“
Momente sammeln, nicht Sachen. Längst haben sich sogar Adventskalender in Probepäckchen verwandelt – für Kosmetikartikel oder Tee. Vorfreude als Konsumanreiz. Und wenn dann endlich alles geschafft und die Deadline erreicht ist – Heiligabend unterm Tannenbaum – hat so mancher einen Kater. Aus Anspannung wird Überdruss.
Als meine Schwester in den USA lebte, hatte sie oft Sehnsucht nach dem deutschen Advent. Lebkuchen und Stollen kann man ja schicken, „Macht hoch die Tür“ und Bachs „Weihnachtsoratorium“ gibt es auf CD, aber die in unseren Städten gibt’s nicht im Netz. Einmal, als das Heimweh besonders stark war, hat sie sich freitags abends in den Flieger gesetzt und ist nach Nürnberg geflogen. Christkindlesmarkt mit Posaunen, Tannengrün und Lichterschmuck und der Duft von gebrannten Mandeln – Weihnachten verzaubert alle Sinne und verwandelt die ganze Stadt.
Die alten Feste lassen keinen außen vor. Das habe ich vor Jahren so erlebt – in Kairo, im Ramadan. Abends, wenn Familien, Freunde und Gäste sich zum Iftaressen treffen, leuchten bunte Glaslaternen über allen Hauseingängen – und sie laden jeden ein. Auch die Müllsammler an den Straßenecken. Mich hat das so begeistert, dass ich eine Ramadanlampe mitgebracht habe – im Handgepäck. Jetzt im Advent leuchtet sie blau, rot und golden in unserem Flur. Was für wunderbare Rituale die großen Religionen haben!
Das weiß längst auch die Wirtschaft.
Der Sozialphilosoph Christoph Deutschmann spricht vom Kapitalismus als Religion.(3) Die allermeisten kaufen mehr, als nötig – als könnten wir uns mit Dingen den eigenen Wert bestätigen. Im Konsumieren und Produzieren suchen viele nach Sinn. Wirtschaftswachstum wird zum Wert an sich. Und die Globalisierung hat die Märkte entgrenzt: Die Produktionsketten von Autos oder Kleidung sind weltweit verbunden. Und Internetfirmen wie Amazon haben dafür gesorgt, dass es jetzt auch bei uns Black-Friday-Rabatte gibt. Die Entgrenzung der Märkte verändert auch unsere Zeitrhythmen, unseren Arbeitsalltag, unser Leben. Wer es sich leisten kann, kann Dienstleister beauftragen, das Fest vorzubereiten und Geschenke zu organisieren – auch für die eigene Familie. Es gibt kaum noch etwas, was man für Geld nicht kaufen kann.
In der globalisierten Welt ist alles möglich, zu jeder Zeit und überall. Black Friday in Deutschland. Ein Weihnachtsbasar in Kairo. Und Lebkuchen im Oktober. Alles lässt sich ordern, mindestens im Netz. „Was man für Geld nicht kaufen kann“, darüber schreibt der Harvard-Philosoph Michael Sandel.(4)
Er fragt in seinem Buch nach den moralischen Grenzen des Marktes: Darf ein Unternehmen Brunnen abschöpfen und das Wasser eines ganzen Dorfes privatisieren? Darf man eine Leihmutter bezahlen, um den eigenen Kinderwunsch zu erfüllen? Dürfen wir die Luft so verschmutzen, dass Kinder und Alte daran krank werden?
Dass Wohlfahrt mehr ist als Wohlstand, ist den meisten klar. Wir zerstören, was uns lieb ist, wenn wir alles dem Markt überlassen. Der Kaufrausch trübt den Blick auf den andern. Und Geschenke stiften noch keine Gemeinschaft – wohl aber ein gedeckter Tisch und Zeit füreinander.
Johann Volkmann hat so einen Tisch um die Welt geschickt.(5) Er steht auf den Plätzen von Akko, von Bochum, Galway und Barcelona. Es ist immer ein anderer, aber er sieht immer gleich aus. Darauf Teller mit weißem Packpapier. Passanten sind eingeladen, darauf zu schreiben. Die Frage lautet überall gleich: Was ist unbezahlbar? Viele Teller werden dicht beschrieben, auf anderen steht nur ein Wort. Volkmann hat die Frage umgetrieben, wie wir Menschen auf dieser Welt zusammenleben wollen. Vier Jahre lang ist er mit seinem Kunstprojekt um die Welt gezogen. Was unbezahlbar ist, lässt sich mit Geld nicht kaufen. Aber träumen lässt sich davon. Mitgeträumt haben auch Menschen in Bethlehem: Sie träumen von Freiheit, Frieden und Freundschaft.
Bethlehem. Ich kann nicht daran denken, ohne den Schuppen mit dem Säugling zu sehen. Maria, seine Mutter, und Joseph, der sich gegen alle Zweifel entschieden hat, hier zu bleiben – bei Frau und Kind. Die Erbärmlichkeit der Unterkunft, die Zerbrechlichkeit der Familie. Auch die Sterndeuter sind da – durch die halbe Welt sind sie gereist auf der Suche nach dem neugeborenen König. Sinnsucher auch sie. Jetzt glauben sie, dass dieses Kind in der zugigen Unterkunft die Zukunft bringt – und sie legen ihm ihre Geschenke zu Füssen: Gold, Weihrauch und Myrrhe. Nichts davon passt wirklich hierher. Die Hirten, die danebenstehen, wundern sich – es sind einfache Leute, sie haben nicht viel zu geben. Aber das spielt keine Rolle. Hier geht es nicht um Leistung und Gegenleistung, um Gabe und Gegengabe. Es ist nicht das Gold, von dem der Glanz ausgeht. Es ist das Kind. Dieser kleine Mensch verkörpert die Hoffnung – auf ein neues Miteinander aller Menschen
Der amerikanische Anthropologe Alan Fiskel hat Tauschbeziehungen und Nahbeziehungen unterschieden.(6) Nahbeziehungen mit Verwandten und Freunden leben vom Vertrauen. Da geben alle Beteiligten, was sie können, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Es geht nicht um Dinge oder Waren, es geht um geteilte Erlebnisse. Tauschbeziehungen funktionieren anders – sie sind interessengeleitet. Da schauen wir auf den Marktwert, den Geldwert der Gabe.
Das ist das Problem: Wenn aus Nahbeziehungen Tauschbeziehungen werden, sind wir enttäuscht. Oder vielleicht auch wütend. Gerade an Weihnachten. „Ich war noch selten so angewidert von unserem Konsumverhalten“, schreibt Susanne Ackstaller. „Collect Moments. Not things.“
Das ist das Besondere an Weihnachten: An der Krippe werden Fremde zu Freunden. Da gibt tatsächlich jeder, was er kann – die einen legen Gold an die Krippe, die anderen fallen auf die Knie. Die einen bringen ihre Gaben, die anderen ihre Hingabe. Das darf man nicht verrechnen. Weil es um Glück geht, und nicht um Geld oder Gold. „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“ sollen die Engel gesungen haben. Legenden und Bilder erzählen, dass das Kind gelächelt hat – ich glaube, es ist Gott selbst, der hier gelächelt hat. Weil er einverstanden ist mit seinen Menschen. Was für eine Vision – eigentlich zu schön, um wahr zu sein. Die Weihnachtslieder halten sie fest, die Erinnerung, dass ein anderes Leben möglich ist.
Manchmal denke ich an den Advent, den ich im Krankenhaus verbracht habe. Wirbel gebrochen und Arm in Gips. Da war nichts mit Einkaufen und Briefe schreiben. Echte Kerzen durfte man nicht anzünden; ich war heilfroh, dass wenigstens draußen ein Weihnachtsbaum leuchtete. Und sonntags spielte ein Posaunenchor Weihnachtslieder. Zum Heulen schön – mehr war nicht nötig für das Fest.
Ich glaube, die schönsten Feiern sind die, wo wir einfach beschenkt werden. Wohnungslose bei der Bahnhofsmission, Einsame im Quartiersladen – bei Kartoffelsalat und Würstchen wie früher zu Hause. Da, am Tisch, werden nicht nur die Lebensmittel geteilt – da teilen Menschen ihre Zeit und ihre Geschichten. An diesem Abend können auch Fremde einander zuhören und füreinander sorgen. Wer so etwas erlebt, der spürt: Da wird das Leben gut, da breitet sich Wohlgefallen aus.
Noch zwei Wochen bis Weihnachten. Das Weihnachtsgeschäft läuft. Gut für Wohlstand und Wachstum. Aber Weihnachten ist mehr: Das Fest will alle einbeziehen – die Wohnungslosen genauso wie die Einsamen.
Wohlfahrt lässt keinen außen vor. Die Philosophin Hanna Arendt nennt das „Sorge für die Welt“.(7) „Welt“ – das ist für sie dieser unersetzliche „Zwischenraum, der zwischen dem Menschen und seinem Mitmenschen“ zu gestalten ist. Die Atmosphäre, die uns umgibt und verbindet – in der wir die ungeweinten Tränen sehen, die Sehnsucht spüren und die Engel singen hören. Wo jeder seinen Platz hat – und keine vergessen wird. Wie an der Krippe in Bethlehem.
Noch zwei Wochen bis Weihnachten. Ich will mir Zeit schenken, damit ich die Tage nicht abhake wie eine To-do-Liste. Damit ich mein Dasein nicht verbringe wie ein Geschäft. Will Raum haben, für mich und andere. Und lieber Feste feiern als feste einkaufen – vielleicht auch mal mit Fremden? Vor zwei Jahren wurde die Kampagne #keinerbleibtallein ins Leben gerufen. Ziel ist, Menschen, die Gesellschaft suchen, Einladungen aus der Nähe zu vermitteln, eben: #keinerbleibtallein. Da fällt mir der alte Mann wieder ein. Vielleicht lässt er sich dieses Jahr einladen? Die Aktion geht noch bis zum 20. Dezember. Das könnte mir wohl gefallen. Wohlgefallen – das ist mehr als Wohlstand. Das ist Erzählen und Lachen und die Engel singen hören. Weihnachten eben, wie es gemeint ist.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- Hark! The Herold Angels Sing, New York Choral Artists (Joseph Flummerfelt), The Boy’s Choir of Harlem (Walter J. Turnbull), The Orchestra of St. Luke’s (Leonard Slatkin), Kathleen Battle: A Christmas Celebration
- O Little Town Of Bethlehem, New York Choral Artists (Joseph Flummerfelt), The Boy’s Choir of Harlem (Walter J. Turnbull), The Orchestra of St. Luke’s (Leonard Slatkin), Kathleen Battle: A Christmas Celebration
- Auf dem Weg nach Bethlehem, Angelika Haak, Angelika Haak – Engel, Hirten, 1000 Könige
Literaturangaben:
- Emotion, 12 /18
- Texterella
- Kapitalistische Dynamik. Eine gesellschaftstheoretische Perspektive. VS, Wiesbaden 2008.
- Was man für Geld nicht kaufen kann, Berlin 2014
- www.kubis.org
- Vgl. Philosophie Magazin Dez 2008, Tausch und Täuschung
- Martina Holme, Die Sorge um sich- die Sorge um die Welt. Martin Heidegger, Michel Foucault und Hanna Arendt, Frankfurt 2018