Wort zum Tage
Gemeinfrei via Unsplash/ Annie Spratt
Die schmerzliche Lücke
von Julia Rittner-Kopp
17.12.2022 05:20
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Eine Lücke im Christbaum - Katastrophe! Hast du das denn nicht gesehen beim Kaufen?

Heute in einer Woche wird es in einigen Wohnzimmern zu solchen Szenen kommen. Für viele ist es ein schönes und auch ein stressiges Ritual: Den Baum aufstellen, schmücken. Ist er gerade? Ist er schön genug, nicht zu groß und nicht zu klein? Und vor allem: Da soll keine Lücke sein. Bitte kein Loch im Tannengrün. Da kann man dann ja keine Kerze, keinen Stern, keine Kugel befestigen. Für den Christbaum gilt also nicht: Mut zur Lücke. Und doch hat in einigen Familien der Christbaum sogar absichtlich eine Lücke. Sie haben sie extra reingesägt, einen Zweig abgeschnitten oder abgebrochen. Es ist ein anderer Mut zur Lücke. Er gehört zu ihrer Trauer. Sie feiern Weihnachten mit einer Lücke - weil ein geliebter Mensch fehlt. Er oder sie ist gestorben - in diesem Jahr oder schon vor längerer Zeit. Es wird Weihnachten ohne sie, ohne ihn. Diese schmerzliche Lücke ist deutlich zu spüren; und sie bleibt.

Weihnachten wird es trotzdem. Die Hinterbliebenen gehen zum Grab und legen dort den abgeschnittenen Weihnachtszweig hin, geschmückt oder nicht. So teilen sie ihr Traurigsein. Die Lücke darf sein, der Tod gehört ins Leben.

Dieses weihnachtliche Trauerritual stammt von der Familie Bonhoeffer. Ihr 18jähriger Sohn Walter ist im 1. Weltkrieg gestorben, im April 1918. Sie müssen das erste Weihnachten ohne ihn feiern. Seine Schwester Sabine schreibt: „Eine schreckliche Lücke, die sein Tod auch in unseren Geschwisterkreis gerissen hat, ist nun da, und sie bleibt offen“ (S. 39). Die Eltern schneiden einen Zweig vom Christbaum ab, erzählt sie, mit Kerze und Lametta. Dann geht die ganze Familie auf den Friedhof zum Grab. Mutter und Vater und die Geschwister. Sie legen den Zweig dort ab. Und halten inne.

„Mama stellt Christrosen auf das Grab, sie versucht, alles schön hinzulegen, Papa hilft ihr dabei, und wir Kinder fegen Schnee und dürre Blätter weg.“ (S. 40)

Und dann gehen sie durch die weihnachtlichen Straßen nach Hause. Und feiern ihr Weihnachtsfest. Ohne Walter. Und doch mit ihm - in jedem Blick auf die Lücke im Baum. Und in dem Wissen, der Zweig, der hier fehlt, liegt auf seinem Grab.

Im Licht von Weihnachten die Lücke anschauen. Der geliebte Mensch fehlt – und ist doch dabei.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

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