"Vom Himmel gefallen" – "Bote der Übernatur". So begeistert-religiös wurde der Citroën DS gefeiert, als er 1955 auf den Markt kam. Autos haben bei einigen Kultstatus. Eine Sendung über die Vehikel der Sehnsucht und des Trostes.
Sendung nachlesen:
Ende vorigen Jahres wurde in Paris die Kathedrale Notre-Dame wiedereingeweiht. Ein Großbrand hatte 2019 den Dachstuhl der Kirche zerstört. In nur fünf Jahren wurde sie wiederaufgebaut – ein Wunderwerk. Eine Kollegin, Annette Bassler meinte damals hier im Deutschlandfunk: Notre-Dame de Paris bewege auch Menschen, die nicht an Gott glauben, denen Kirche ziemlich fremd ist. Vielleicht ziehe sie es in diese Kathedrale, weil man dort etwas spürt, was selten ist: Aus Materiellem, aus Stein, Mörtel und Glas, wurde etwas Immaterielles geschaffen.
Und:
Annette Bassler in ihren "Gedanken zur Woche" vom 6. Dezember 2024:
"Es gibt eine große Kraft, die nicht zerstört, sondern aufbaut, die nicht trennt, sondern zusammenführt."
Ich stimme zu. Dieses Gefühl von einer großen, konstruktiven Kraft stellt sich unwillkürlich ein, wenn man im Kirchenschiff von Notre-Dame sitzt - in diesem hellen Raum, der so groß ist und doch so leicht wirkt. Die Touristenmassen, die das Schiff mit den Bänken dauernd umkreisen, stören merkwürdigerweise nicht. Die Kathedrale hält das aus.
Ich glaube, dass das Auto heute das genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen ist.
Meinte 1957 der französische Philosoph Roland Barthes.
Und der hatte dabei nicht irgendein Auto im Kopf, sondern das Auto schlechthin,
den Citroën DS 19, später DS 21, la déesse. Die Spanier nennen den Wagen tiburón, den Hai, weil das Frontdesign von vorn an das Gesicht eines Hais erinnert, naja: ein bisschen.
Die Limousine hat eine elegante Linienführung, eine lange Schnauze, eine geduckte Kabine, hinten läuft die Karosserie kurz aus. Legendär ist ihre Hydraulik: Wenn der Motor läuft, hebt sich das Fahrgestell und gibt der Karosse damit Bodenfreiheit. Ist der Motor aus, senkt es sich wieder ab. Wegen dieser technischen Besonderheit bekam das Auto die zusätzlichen Spitznamen "Frosch" oder "Hecht".
Vor 70 Jahren, im Herbst 1955, wurde la DS auf dem Pariser Autosalon der Öffentlichkeit vorgestellt.
Die Abkürzung DS klingt im Französischen exakt wie déesse, übersetzt: Göttin.
Und das war Absicht.
Dieses Automobil präsentierte sich der Welt wie von göttlicher Natur,
es sei so etwas
- wie "ein Bote der Übernatur", wie vom Himmel gefallen,
- vollkommen,
- ihm fehle der Ursprung,
- es sei "etwas Abgeschlossenes und Glänzendes,
- eine Umwandlung des Lebens in Materie",
- ja: "ein Schweigen, das der Ordnung des Wunderbaren angehört."
Meinte damals Roland Barthes. Das klingt religiös. Und sollte es auch.
Roland Barthes hielt diesen Citroën von 1955 für einen Mythos.
Der Band, in dem sein Essay über die DS erschien, heißt: Mythen des Alltags.
Vor allem wegen dieses Essays über den Citroën DS wurde das Buch bekannt.
Heute ziert ein Foto der DS das Suhrkamp-Bändchen.
"Boten der Übernatur" haben im Christentum andere Namen und das "Schweigen, das der Ordnung des Wunderbaren angehört" findet man in der christlichen Mystik.
"Alles in uns schweige", heißt‘s in einem mystisch inspirierten Kirchenlied. Heilige Gegenstände gab es schon immer. Die Geschichte der Menschheit durchzieht die Vorstellung, dass eine irdische Sache Überirdisches verkörpern kann.
Von solcher Philosophie der Dinge wusste der kleine Junge nichts, der etwa 1958 auf dem Beifahrersitz einer weißen DS saß und im weichen roten Polster fast versank. Damals mussten Kinder noch nicht auf die Rückbank.
Der Junge sah nur die vielen Menschen, die durch die großen Scheiben zu ihm hineinguckten. Er wusste nicht, dass sie sich gar nicht für ihn interessierten, sondern für dieses außergewöhnliche Auto. Offenbar hatte ihn der Vater für ein paar Minuten im Wagen gelassen, weil er irgendwas erledigen musste.
Die Menschen guckten nicht nur, sie berührten das Auto, ja: sie streichelten es.
Und genau das hatte kurz nach der Geburt der DS bereits der Philosoph Roland Barthes bemerkt.
Es scheinen "die Übergangsstellen ihrer verschiedenen Flächen" zu sein, "die das Publikum am meisten interessieren. Es betastet voller Eifer die Einfassungen der Fenster, es streicht mit den Fingern den breiten Gummirillen entlang, die die Rückscheibe mit ihrer verchromten Einfassung verbinden."
Der ängstliche kleine Junge sah, wie die Leute das Auto streichelten, den Lack, die Gummis, die kaum noch vorhandenen Nähte. Roland Barthes sah das auch:
"Das Blech, die Verbindungsstellen werden berührt, die Polster befühlt, die Sitze ausprobiert, die Türen werden gestreichelt, die Lehnen beklopft."
Mitte der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts war die Karosserie des Citroën DS etwas völlig Neues, etwas Wunderbares. Nichts erinnerte mehr an eine Kutsche, der im Straßenverkehr damals noch bekannten Vorgängerin unserer Autos, in die man hinaufsteigen musste und deren Kotflügel über den hohen Rädern den Kutscher und die Insassen vor dem Dreck schützten. Darum Kotflügel. Schließlich waren die Straßen nicht asphaltiert und schmutzig.
Solche Kotflügel waren bei dem Citroën DS endgültig verschwunden. Ebenso die Trittbretter, die den VW-Käfer bis zu seinem Ende zierten.
Zu den Verehrern der DS gehört der Regisseur Edgar Reitz. Er bekennt in seinen Erinnerungen, er habe seine Göttin, ein weißes DS Cabrio mit roten Sitzen, gelegentlich gestreichelt. Schließlich hatte er sich in dieses Auto verliebt und es dann 20 Jahre lang gefahren. Edgar Reitz schreibt in seinen Erinnerungen:
"Eines Tages habe ich geschworen, mich niemals mehr in ein Auto zu verlieben.
Dieser Schwur galt einem Auto, das mir zeitweise den Verstand geraubt hatte."
Für Edgar Reitz war seine
"DS eine Kontaktmaschine. In Frankreich erlebte ich oft, dass Leute mein Auto umkreisten und mich nach Herkunft und Technik fragten; manche wollten wissen, ob der Wagen verkäuflich sei. …"
Leider wurde die Göttin mit den Jahren immer kapriziöser. Sie blieb mitten auf der Autobahn stehen und pisste ihr ganzes Hydrauliköl auf die Straße. Das wirkte wie ein Infarkt."
Bei Verlust der Hydraulik konnte die DS nicht abgeschleppt werden. Sie lag mit allen vier Füßen platt auf dem Boden. Auch das hatte der Junge, der ich einst war, in der väterlichen DS miterlebt. Zum Glück gab‘s den Ehemann der Buchhalterin in der Firma des Vaters. Der war Citroën-Mechaniker und kam auch sonntags zu Hilfe.
…
Allein dies zeigt: Ein Auto ist kein Engel, kein "Bote der Übernatur", wie der Philosoph Roland Barthes spottete. Und ist alles andere als vollkommen. Es rostet und geht kaputt, heute vielleicht etwas langsamer als vor 70 Jahren, jedenfalls was das Blech angeht.
Dem Rosten der DS konnte man zuschauen. Manchmal fiel der Göttin eine hintere Radabdeckung einfach ab. Sie war mit nur einer Schraube befestigt und die war oft nach wenigen Jahren schon weggerostet.
Autolack glänzt wunderschön, nicht selten metallisch. Aber alle wissen: Das ist kein "Morgenglanz der Ewigkeit, kein Licht vom unerschaffnen Lichte".
Dass Leben in Materie verwandelt wird, dass ein Auto sozusagen lebt - das ist selbst dann Unsinn, wenn jemand in sein Auto verliebt ist und es zärtlich streichelt.
Das wissen alle, die in ihr Auto verliebt sind. Und dennoch halten manche ihr Blechfahrzeug für ein heiliges Objekt, für a heiligs Bechle, für etwas Anbetungswürdiges, vom Himmel Gefallenes.
Die Automobile sind besetzt mit Träumen und Phantasien. Sie sind Symbole für Kraft, Stärke und Geschwindigkeit. Bloß: Die PS-Stärke und die Kraft des Motors, so berauschend sie sein mögen, haben nicht die Macht, menschliche Nacht zu vertreiben.
Vielleicht vertreiben sie die Zeit oder die Langeweile und den einen oder anderen Komplex, nicht aber die Nacht im eigenen Leben.
Morgenglanz der Ewigkeit, Licht vom unerschaffnen Lichte,
schick uns diese Morgenzeit deine Strahlen zu Gesichte
und vertreib durch deine Macht unsre Nacht.
Keine 1000 PS schaffen das, unsere Nacht zu vertreiben. Aber man träumt davon in manchem Augenblick, manche beim Anblick eines glänzenden Automobils. Die Sehnsucht nach seligen Momenten kennen die meisten, wenn nicht alle Menschen. Und wenn man ein bisschen Seligkeit gefunden hat, dann möchte man sie gerne festhalten, sie dingfest machen irgendwo, irgendwie, irgendwann… - und nicht selten auch in Seligkeitsdingen.
Autos sind besetzt mit Träumen und Phantasien, auch mit erotischen.
Man denke nur ans Streicheln des Lacks, der Sitze, der Linien der Karosserie.
Autos sind vielen "Freund, Kumpel (wehe, wenn er einen im Stich lässt!) oder Geliebte. Letzteres, sofern er Mann ist", schreibt der evangelische Theologe Gert Hartmann. Der Autoliebhaber "pflegt sie", also seine Autos, "sie haben es gut bei ihm. Das Waschen jedenfalls - traditionellerweise sonst Aufgabe der Mütter - scheint beim Auto männliche Lieblingsbeschäftigung zu sein."
Ich rede gern mit anderen Männern über Autos, am liebsten über alte Citroëns, Simcas oder Peugeots. Die Männer erzählen dann viel von sich selbst, von ihren Träumen und Phantasien.
Der heute 92-jährige Filmregisseur Reitz erzählte vor zwei Jahren in seinen Erinnerungen, seine DS habe in einigen seiner Filme eine Rolle gespielt, auch als "Flucht- und Trostvehikel". Wenn man seine Biografie liest: ein Trostvehikel war sie offensichtlich auch für ihn. Er redete sogar mit diesem Auto.
Die Göttin belohnte mich auf vielen einsamen Fahrten mit ihrem zarten Schnurren und sanften Wiegen, wenn ich ihr meine geheimsten Geheimnisse anvertraute.
Doch dann:
Als ich mich schließlich von der Göttin trennte, hatte ich eine andere Liebe gefunden. Es war endlich kein Auto mehr.
Wie schön! Ich wünsche das allen, die in ihr Auto verliebt sind.
Und ganz nebenbei: Die Straßen wären sicherer und es gäbe weniger Raser, glaube ich. Kein Objekt, keine Maschine würde mehr geliebt, sondern ein lebendiger Mensch.
Als die Kathedrale Notre-Dame de Paris wundervoll restauriert wiedereröffnet wurden, haben viele Menschen "eine große Kraft" gespürt, "die nicht zerstört, sondern aufbaut, die nicht trennt, sondern zusammenführt".
Ein Automobil mit seinen PS-Stärken mag die Gehirne belohnen, Dopamin wird beim schnellen Fahren ausgeschüttet, der Botenstoff des Glücks.
Die Kraft jedoch, die aufbaut und nicht trennt, sondern zusammenführt, die Macht, die unsre Nacht vertreibt, kann Menschen in einer Kathedrale zuwachsen, beim schnellen Fahren nicht.
Weltweit werden Milliarden für Automobile ausgegeben.
Natürlich: weil sie Menschen fortbewegen, in hohem Maße aber auch, weil sie quasi religiös besetzt sind, weil sie als heilige Objekte in Szene gesetzt und so zu "Flucht- und Trostvehikeln" werden.
Weil sie so tun, als verkörperten sie etwas Immaterielles: Freude am Leben oder Sicherheit oder Vorsprung.
Menschliche Nacht kann ein Auto nicht vertreiben. Ein Besuch in einer Kathedrale auch nicht automatisch. Und doch kann ich darum bitten und dafür beten:
Licht vom unerschaffnen Licht, schick mir heute deine Strahlen zu Gesicht und vertreib durch deine Macht meine Nacht!
Wenn ich so bitte, muss ich mich nicht darstellen. Ich muss mich nicht selbst inszenieren, mich nicht aufführen. Ich muss niemanden überholen.
Eigentlich muss ich beim Beten gar nichts machen, eher vieles loslassen: Alles in mir schweige!
Der heutige Sonntag heißt Rogate, Betet!
Und beim Beten trete ich nicht aufs Gas, im Gegenteil. Ich fahre runter, lasse los. Ich lasse mich verschwinden und bete einen uralten Text wie das Vaterunser und denke nicht einmal darüber nach, sondern versenke mich bloß in diese Worte.
Es ist wie ein schweigendes Reden.
Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben,
aller Dinge Grund und Leben,
Meer ohn Grund und Ende, Wunder aller Wunder:
ich senk mich in dich hinunter.
Ich in dir, du in mir, lass mich ganz verschwinden,
dich nur sehn und finden.
Das hat der Weber und Schriftsteller Gerhard Tersteegen gedichtet in seinem Lied "Gott ist gegenwärtig". Eine mystische Anleitung zum Gebet aus dem 18. Jahrhundert.
Erst wenn ich loslasse, wenn ich mich leer mache und das rauskriege aus meinem Kopf, was mich kirre macht, kann ich berührt und erfüllt werden vom "schönsten Licht". Um erfüllt zu werden, muss man leer sein.
Du durchdringest alles; lass dein schönstes Lichte,
Herr, berühren mein Gesichte.
Wie die zarten Blumen willig sich entfalten
und der Sonne stille halten, lass mich so still und froh
deine Strahlen fassen und dich wirken lassen.
Das geht nur langsam, ganz langsam.
Sich wie eine Blume entfalten - mit der Brechstange funktioniert das nicht.
Aber eine alte, gut eingebetete Kirche kann dabei helfen. Es muss nicht Notre-Dame de Paris sein. Es tut‘s auch die Kirche in meinem Dorf oder das stille Kämmerlein.
Das Licht vom Licht, dessen Macht meine Nacht durchbricht, kann ich nicht herbeizwingen. Ich kann mich ihm bloß öffnen und es wirken lassen. Auch Schweigen hilft, schließlich gehört das Schweigen zur Ordnung des Wunderbaren.
Es ist kein Zufall, dass der französische Philosoph Roland Barthes in seinem Buch "Mythen des Alltags" sich gerade einen Citroën DS für seine These ausgesucht hat, das Auto sei heute das Äquivalent der gotischen Kathedralen.
Anders als bei deutschen Autos denkt bei dieser Limousine niemand an PS. Die DS ist kein Kraftprotz. Bei diesem Auto assoziiert niemand Höchstgeschwindigkeit oder zählt die Sekunden, in denen der Motor beschleunigt. Roland Barthes meinte, an die Stelle der Alchimie der Geschwindigkeit trete ein anderes Prinzip: Fahren werde ausgekostet."
Mit diesem Auto assoziierte man Komfort und ja: auch Schönheit.
In einer DS - und auch noch in vielen ihrer Nachfolgerinnen - gleitet man dahin.
Bei diesem Auto gilt: Reisen statt Rasen. Wenn ich so reise, stört die Geschwindigkeitsbeschränkung von 130 Kilometern auf den französischen Autobahnen überhaupt nicht. Es geht um gemächliches und entspanntes Fahren. Und um Freude daran.
Reisen entschleunigt. Reisen hat mit Runterkommen zu tun, weniger mit dem Ankommen, eher mit dem Weg, weniger mit dem schnell erreichten Ziel. Wenn ich durch mein Leben rase, womöglich noch dauernd auf der Überholspur, verpasse ich womöglich etwas Zentrales: die Gegenwart, das Jetzt. Wenn ich reise, habe ich Freude am Fahren. Und am Leben.
Gute Reise!
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. Geh aus, mein Herz, instrumental, Thomanerchor Leipzig, Torsten Laux
2. Irgendwo auf der Welt (Berliner Comedian Harmonists)
3. "Gott ist gegenwärtig", RIAS-Produktionen 1971, Verlag Singende Gemeinde, Wuppertal
4. Arie instrumental JSB Jenissei Bläserquartett
Literatur dieser Sendung:
1. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt 1981, 76
2. "Gott ist gegenwärtig" von Gerhard Tersteegen, Evangelisches Gesangbuch Nr. 165
3. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt 1981, 77
4. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt 1981, 78
5. Edgar Reitz, Filmzeit, Lebenszeit, Erinnerungen, Berlin 2022, 344
6. Edgar Reitz, Filmzeit, Lebenszeit, Erinnerungen, Berlin 2022, 350
7. Christian Knorr von Rosenroth, "Morgenglanz der Ewigkeit", Evang. Gesangbuch Nummer 450
8. Gert Hartmann, Freude am Fahren, Eine kleine Ethik für Motorisierte, München 1988, 97
9. Edgar Reitz, Filmzeit, Lebenszeit, Erinnerungen, Berlin 2022, 353
10. Edgar Reitz, Filmzeit, Lebenszeit, Erinnerungen, Berlin 2022, 354
11. Gerhard Tersteegen, "Gott ist gegenwärtig", Evangelisches Gesangbuch Nummer 165
12. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt 1981, 77