Die Sehnsucht nach dem Erlöser

Am Sonntagmorgen

Gemeinfrei via Unsplash/ Jametlene Reskp

Die Sehnsucht nach dem Erlöser
Am Sonntagmorgen
20.08.2023 - 08:35
30.05.2023
Joachim Schmidt

von Pfarrer Joachim Schmidt

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Vermutlich spielt die Geschichte vor Jahrtausenden, vielleicht irgendwo in der grenzenlosen Weite einer Wüste, ein Stück abseits uralter Karawanenwege. Eine Geiselnahme, vielleicht als Räuber eine Gruppe von Kaufleuten überfallen. Die Geiseln werden verschleppt, in ein verschwiegenes Tal oder eine Höhle. Es geht um Lösegeld, soviel ist klar. Das Leben der Gefangenen hat einen hohen Preis. Wenn sie überleben sollen, muss jemand zahlen. Sie hoffen und bangen, dass es diesen Jemand gibt.

Man muss keine Krimis gelesen oder Abenteuerfilme gesehen haben, um sich die entsetzliche Situation vorzustellen. Für die Geiseln vergehen Wochen voller Ungewissheit. Aber irgendwann funktioniert die Erpressung, jemand bezahlt das Lösegeld, die Geiseln kommen frei. Und wahrscheinlich suchen sie als erstes den, der sie gerettet hat. Der ihnen das Leben neu geschenkt hat. Ihren Erlöser.

Wir Menschen denken am liebsten in Bildern. Oder besser: In Geschichten, die Bilder im Kopf entstehen lassen. Manchmal werden dann die Bilder zu einem einzigen Wort. Die Geschichte verschwindet, das Wort bleibt übrig, und keiner käme mehr auf die Idee, die Geschichte dahinter zu erzählen. „Erlöser“ ist so ein Wort.

Schon lange hat sich das Wort Erlöser von der Erinnerung an eine Geiselgeschichte gelöst. In der Tradition des jüdischen Glaubens steht es für den verheißenen Messias und im Christentum ganz ähnlich für die Macht Jesu, uns Menschen am Ende des Lebens vor dem ewigen Tod zu erretten. Ein Narrativ, würde man heute vielleicht dazu sagen.

Ursprünglich eine positive Hoffnung: Irgendwann einmal wird Gott das Leben zu einem guten Ziel bringen. Doch so, wie die Menschen nun einmal sind, haben sie diese uralte Hoffnung der Juden und der Christen in ihr Gegenteil verkehrt. Deshalb hat die Erwartung eines endzeitlichen Erlösers für mich auch eine tief dunkle Kehrseite: Die Sehnsucht, ein starker Führer möge das komplizierte Leben endlich einfacher machen. Mir scheint, dass diese Sehnsucht in vielen Teilen der Welt gerade wieder stärker wird, auch bei uns in Deutschland. Die Krisen der letzten Jahre haben jenen Auftrieb gegeben, die schon immer behauptet haben, einfache Antworten auf komplizierte Fragen zu haben.

Nirgends in der Bibel erscheint das Bild von der Erlösung so oft wie in den Psalmen, dem Lieder- und Gebetbuch des jüdischen Volkes und später auch der Christen. Oft genug wurden diese Texte fast trotzig gegen den Augenschein in einer trostlosen Gegenwart gesungen und gebetet. So steht zum Beispiel im Psalm 130:

Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen …. Hoffe Israel auf den HERRN! Denn bei dem HERRN ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm. Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.

Wer einmal eine Nacht durchwacht hat, kennt das: Wie quälend langsam die Stunden vergehen und wie man auf den neuen Morgen, das Licht nach der Dunkelheit wartet, wenn mit dem Tag das Leben wieder neu beginnt. Aber Geduld ist gefragt. Das Morgenlicht lässt sich nicht erzwingen. Das hat das biblische Israel in seiner Geschichte viele Jahrhunderte lang erfahren müssen. Die Königreiche Davids und Salomos und die beiden folgenden Kleinstaaten Israel und Juda hatten jeweils nur sehr kurze Blütezeiten. Sie haben nicht lange bestanden. Die übermächtigen Nachbarn Babylon, Assur, Ägypten und wie sie alle hießen, waren militärisch und politisch jedes Mal stärker. Bis zur Zeit Jesu lebten die Juden unter fremden Besatzern.

Lange Zeit war wenig von Erlösung zu sehen. Da entstand die Hoffnung auf einen künftigen Messias. Messias bedeutet aus dem Hebräischen übersetzt Gesalbter. Eines Tages, erzählte man sich, würde er erscheinen und endlich den Willen Gottes auf Erden verwirklichen, die Not Israels beenden. Dann würde er ein Reich der Gerechtigkeit und der Freiheit aufrichten, und alle Welt würde die Herrlichkeit Gottes sehen.

Jahrhunderte später zog Jesus von Nazareth durch das jüdische Land und verkündete, das Reich Gottes sei nahe herbeigekommen. Seine Anhänger sahen in ihm den erhofften Messias. Das führte zu schweren Konflikten mit der amtlichen Priesterschaft in Jerusalem. Durch allerlei Intrigen überzeugten die Frommen die römischen Besatzer, dass dieser Jesus am Kreuz hingerichtet werden müsse. Und so geschah es. Wieder eine Hoffnung weniger, so schien es.

Aber schon nach wenigen Tagen begannen sich die verstörten Jünger zu erzählen: Jesus ist nicht im Grab geblieben, sondern ins Leben zurückgekehrt, auferstanden von den Toten. Viele bezeugten, sie hätten ihn gesehen und mit ihm gesprochen. Der Glaube breitete sich aus, die erste Christengemeinde entstand. Seitdem lautet das uralte Bekenntnis der Christen: Durch seinen Tod und seine Auferstehung hat Jesus Christus dem Tod die Macht genommen.

Wie beim Wort Erlösung steckt auch hinter diesem Bekenntnis ein Bild. Es ist das Bild eines Machtkampfes. Zwei Starke ringen miteinander, und einer nimmt dem anderen am Ende all seine Macht. Die Geschichte des Christentums ist voll theologischer und künstlerischer Versuche, sich diesen Kampf plastisch auszumalen, wo am Ende Christus der Sieger über den Tod bleibt – und mit ihm alle, die an ihn glauben. In dem evangelischen Kirchenlied „Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude“ aus dem 18. Jahrhundert heißt es denn auch dramatisch:

Jesus ist kommen, der starke Erlöser,
bricht dem gewappneten Starken ins Haus,
sprenget des Feindes befestigte Schlösser,
führt die Gefangenen siegend heraus.
Fühlst du den Stärkeren, Satan, du Böser?
Jesus ist kommen, der starke Erlöser.

In Liedern wie diesem haben sich die Christen den Sieg des Guten über das Böse, Gottes über den Teufel, ausgemalt. Ganze Schlachtengemälde stehen zu diesem Thema heute noch in den Gesangbüchern, besonders in den evangelischen. Da ist dann aus Jesus, dem armen Wanderprediger in Palästina, der die Liebe und das Erbarmen Gottes verkündigte, auf wundersame Weise ein unbesiegbarer Kriegsheld geworden.

Der Gedanke, Christus der Erlöser sei geradezu eine Super-Waffe, ist schon sehr früh in der Geschichte des Christentums entstanden. Das war im vierten Jahrhundert zu der Zeit, als der christliche Glaube die privilegierte Religion im Römischen Reich wurde. Da soll der römische Kaiser Konstantin vor einer entscheidenden Schlacht ein Kreuzeszeichen am Himmel gesehen und die Worte gehört haben: „In diesem Zeichen wirst du siegen!“ Eine fromme Legende, vermutlich. Aber im gleichen Geist stand später jahrhundertelang auf den Koppelschlössern deutscher Soldaten „Gott mit uns“. Wobei im christlichen Abendland Europa immer alle Kriegsparteien genau das Gleiche für sich auch in Anspruch nahmen. Klar war: Wir sind die Guten und kämpfen gegen die Bösen und Gott ist auf unserer Seite.

Könnte die Welt bitte nicht etwas weniger kompliziert sein? Und könnte nicht bitte jemand kommen, der von einer höheren Warte aus mit tieferer Erkenntnis das Chaos der vielen, sich täglich widersprechenden und durcheinanderschreienden Stimmen für uns ordnet? Einer mit Durchblick und Durchgriff? Der auf Anhieb das Richtige tut und keine Kompromisse machen muss, wie ständig unsere Politiker? Einfach – ein Erlöser eben?

Der Traum von einer einfachen Welt mit einem starken Erlöser an der Spitze war schon immer verführerisch. Alle Diktatoren der Welt haben ihn zu allen Zeiten geträumt. Denn dann gibt es ja nur noch zwei klare Möglichkeiten: Für oder gegen, Erlösung oder Verdammnis, Ja oder Nein, Hell oder Dunkel, Gut oder Böse, Freund oder Feind. Nicht so anstrengend und kompliziert wie das normale Leben um uns herum mit seinen vielen Problemen und Meinungen, nein: Leicht zu verstehen und einfach zu ordnen. Für sehr viele Menschen ist das wohl hoch attraktiv. In Deutschland hatten wir das schon mal während der Diktatur der Nationalsozialisten in den dunklen braunen zwölf Jahren. Heute können die Menschen in Russland ein Lied davon singen, wie das geht, und auch in China und in vielen anderen Ländern, bei denen der eine oder eine Clique ganz da oben sich als eine Art Erlöser ihres Volkes sieht und deshalb grenzenlose Macht beansprucht.

Doch es ist ein furchtbares, dunkles Zerrbild von Erlösung. Denn da wird eben niemand befreit zu einem selbstbestimmten, menschenfreundlichen, zuversichtlichen Leben, sondern gefangen, und die Fesseln werden immer stärker angezogen. Das funktioniert erstaunlich oft, eben weil viele Menschen ihre Welt möglichst einfach haben möchten: So, wie man es gewohnt ist, wie sie schon immer war und wie sie sich bitte nicht ändern soll. Aber die Welt bleibt nicht stehen, die Geschichte geht weiter. Es gibt ständig neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Ständig ändern sich die Verhältnisse. Die stabile Welt mit dem großen Erlöser an der Spitze ist reines Wunschdenken. Wer sich dem verschreibt, wird zu einer Geisel seiner eigenen Bequemlichkeit. Und ein Erlöser aus Denkfaulheit muss erst noch gefunden werden.

Aber angesichts der riesigen Probleme, vor denen die Welt steht, scheint im Gegenteil vielerorts die Sehnsucht nach Erlösern dieser Art gerade wieder zu wachsen. Wir in Deutschland sollten uns daran gegenseitig immer wieder erinnern, wenn von Ewiggestrigen und Querdenkern scheinbar einfache Lösungen für komplizierte Fragen propagiert werden, auch wenn sie manchmal fromm daher kommen. Auch Hitler hat sich in den letzten Monaten vor der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 bei seinen Reden einer besonders religiös dekorierten Sprache bedient, bis hin zu unverhohlenen Anleihen beim christlichen Glaubensbekenntnis oder beim Vaterunser. Das heißt gar nichts.

Ja, diese Welt sucht nach Erlösung, aber sie ist noch nicht erlöst. Das Leben ist nicht einfach, sondern unüberschaubar vielfältig. Das wird so bleiben, und auch bei bestem Willen ist die Erkenntnis von heute vielleicht morgen schon die nächste Dummheit. Christen leben gewissermaßen in einer Zwischenzeit: Erlöst im Geist des Glaubens und zugleich als irdische Menschen in den Dunkelheiten dieser Welt. Simul iustus et peccator, Gerechter und Sünder zugleich, hat Martin Luther diese merkwürdige Doppelexistenz einmal genannt.

Vor fast zweitausend Jahren schrieb der Apostel Paulus an die Christen in Rom: Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. Es klingt so harmlos, doch Hoffnung, Geduld und Gebet sind stille, aber wirksame Kräfte, auch gegen Hass, Hetze und Gewalt. Noch sind wir in dieser Welt nicht erlöst.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Ernest Bloch: Suite Hebraique  II. Processional: Andante Con Moto, CD-Titel: Ernest Bloch, Deux Psaumes – Suite hébraïque usw.    
  2. Ulf Wallin: Camerata Nordica: Suite No. 7 (Incidental music to Shakespeare's Antony & Cleopatra) - IV. Doloroso (Kurt Atterberg), CD-Titel: Atterberg: Sinfonia per archi, Op.53 • Ulf Wallin • Camerata Nordica.
  3. Tabea Zimmermann: 1. Prayer (Ernest Bloch), CD-Titel: From Jewish Life -.

 

30.05.2023
Joachim Schmidt