Die Erfindung des Gesanges

Feiertag
Die Erfindung des Gesanges
Das Lied als Motor der Reformation
18.10.2015 - 07:05
26.07.2015
Pastor Diederich Lüken

Es gibt nur noch wenige Orte, an denen man aus voller Brust und ganzem Herzen Lieder schmettern kann, auch wenn man dazu weder ausgebildet noch besonders begabt ist. Einer davon ist die Kirche. Jeder kann mitsingen; ob hoch oder tief, richtig oder falsch, geübt oder ungeübt, ist nicht so wichtig. Das war nicht immer so. Über Jahrhunderte war der Gesang in der Kirche vor allem ausgebildeten Sängern vorbehalten. Oft waren es Mönche, die die kunstvollen gregorianischen Gesänge anstimmten; im schlimmsten Fall tat dies der Priester selbst. Die Gemeinde konnte nicht mitsingen; sie hatte nur die Ohren aufzusperren, auch wenn sie nichts verstand – die Gesänge waren fast ausnahmslos auf Latein.

 

Der gemeinsame Gesang der Gottesdienstbesucher kam erst im Lauf der Reformation auf und war eine Erfindung Martin Luthers. Der Anlass für sein erstes Lied war die Hinrichtung zweier junger Männer. Die neue Lehre hatte sich auch nach Flandern verbreitet und Brüssel erreicht. Dort bekannten sich 1523 zwei junge Augustinermönche zur Reformation, Johann van den Eschen und Hendrik Voes. Die katholische Inquisition bemächtigte sich beider, und sie wurden daraufhin als Ketzer verbrannt. Martin Luther dichtete ein Protestlied: „Ein neues Lied wir heben an“. Darin geißelte er mit scharfen Worten das Verhalten der Inquisitoren und lobte die Unbeugsamkeit der beiden Märtyrer. Unter der Hand aber verwandelte sich das Protestlied in das Lob Gottes. Gott hatte, so Luther, den Märtyrern die Kraft zu ihrem unbeugsamen Widerstand gegeben. Somit hatte er trotz des Scheiterhaufens und sogar durch den Feuertod der beiden Blutzeugen hindurch der Reformation ein Fanal gesetzt. Luther erfand noch eine Melodie dazu und ließ das Ganze als Einblattdruck kursieren – mit einem ungeheuren, nicht vorhersehbaren Erfolg. Das Lied wurde bald auf Märkten, in Spinnstuben, Kneipen und Kutschen gesungen, überall dort, wo Menschen beieinander waren. Es verbreitete sich wie ein Lauffeuer, entzündete die Herzen der Sänger für die Reformation und brannte ihnen den Widerstand gegen katholische Missbräuche ins Gemüt. Es folgen zwei Strophen mit einer Begleitung durch Johann Walter.

 

Für Martin Luther war dieses „neue Lied“ eine Initialzündung. Er besann sich auf seine früh ausgebildeten musikalischen Fähigkeiten. Die Musik hatte den Reformator seit seiner Kindheit begleitet. Er pflegte das damals übliche Kurrende-Singen, das heißt, er zog zusammen mit anderen Kindern von Haus zu Haus und erbettelte sich damit ein Stück Brot oder einen Apfel. Er erlernte das Flötenspiel und studierte in Erfurt 1501 bis 1505 unter anderem Musik. Während einer Krankheit brachte er sich selbst das Lautenspiel bei. Er komponierte ein vierstimmiges Chorwerk. Luthers musikalisches Verständnis reichte so weit, dass er die Komponisten seiner Zeit nach ihrer Qualität beurteilen konnte.

 

„Ich erkläre es ausdrücklich und schäme mich nicht, es zu behaupten, dass es nächst der Theologie keine Kunst gibt, die der Musik gleichgestellt werden könnte. Denn nächst der Theologie kann allein sie das gewähren, was sonst nur die Theologie vermag: nämlich Ruhe bewirken und ein frohes Gemüt, zum offenbaren Zeugnis dafür, dass der Teufel, der Urheber von Sorge, Traurigkeit und Unruhe, beim Klang der Musik beinahe ebenso flieht wie beim Wort der Theologie.“

 

Luther pries die erzieherischen Qualitäten einer guten Musikausübung:

„…ich […] möchte, dass die Jugend, die ohnehin soll und muss in der Musik und andern rechten Künsten erzogen werden, etwas hätte, damit sie die Buhllieder und fleischlichen Gesänge los würde und stattdessen etwas Heilsames lernte und so das Gute mit Lust, wie es den Jungen gebührt, einginge.“

 

Die Beschäftigung mit der Musik war für Luther unmittelbarer Ausdruck des Glaubens, ja, des Evangeliums. „Denn in und durch die Musik wirkt der Heilige Geist, indem sie die Menschen zum Empfang des Wortes Gottes bereit macht. Deshalb ist die Musik auch das beste Mittel, Gottes Wort zu verkünden“, so gibt der Luther-Interpret Christoph Scheerer die Auffassung Luthers wieder.

Der Anfang war mit dem Protestlied „Ein neues Lied wir heben an“ gemacht. Durch seinen Erfolg ermutigt, wagte sich Luther an ein weiteres Lied: „Nun freut euch, liebe Christen g’mein“, Text und Melodie vom Reformator. Als Kirchenlied war es allerdings ursprünglich nicht gedacht. Es war eine Art Bänkellied für Markt und Gassen; es stellt in unterhaltsamer Form den Inhalt der reformatorischen Lehre dar. Auch dieses Lied fand rasche Verbreitung. Die Menschen sogen dieses Lied geradezu auf und ließen sich begeistern von Versen wie:

„Da jammert Gott in Ewigkeit mein Elend übermaßen; er dacht an sein Barmherzigkeit, er wollt mir helfen lassen; er wandt zu mir das Vaterherz, es war bei ihm fürwahr kein Scherz, er ließ’s sein Bestes kosten. Er sprach zu seinem lieben Sohn: „Die Zeit ist hier zu erbarmen; fahr hin, meins Herzens werte Kron, und sei das Heil dem Armen und hilf ihm aus der Sünden Not, erwürg für ihn den bittern Tod und lass ihn mit dir leben.“

 

So besangen Knechte und Mägde, Bauern und Handwerker, Bürger und Edelleute plötzlich auf offener Straße und in den Wirtshäusern theologische Erkenntnisse von größter Tragweite. Was Predigt und Druckerzeugnis allein wohl kaum vermocht hätten, brachte dieses Lied fertig: den Gedanken der Reformation zu den Menschen zu bringen, gleich, welchen Bildungsstandes.

 

Die Gottesdienste sollten jetzt, das war eine unaufgebbare Forderung Martin Luthers, in deutscher Sprache gehalten werden. Nicht mehr der Priester war der Herr des gottesdienstlichen Geschehens, sondern die Gemeinde. Jeder Christ ist ein Priester, das war die Auffassung Luthers; das heißt aber auch: jeder Gläubige kann und soll sich am Gottesdienst beteiligen. Wie kann das geschehen, ohne dass das Chaos ausbricht? Es gab Pfarrer, die in eigener Verantwortung deutschsprachige Gottesdienstordnungen schufen; andere blieben bei ihrem Latein, waren aber damit höchst unzufrieden. Der Druck auf Martin Luther wuchs: Wo bleibt die deutsche Messe? Wo bleiben die deutschen Lieder? Hinzu kam das sächsische Verbot, das Neue Testament auf Deutsch zu besitzen. Konnten nicht Lieder das Evangelium verbreiten? Die entsprechende Korrespondenz zwischen Luther und seinem Freund Spalatin (1484-1545) gab den entscheidenden Anstoß.

So dichtete und komponierte Martin Luther weitere Lieder. Lied um Lied verließ nun seine Klause. Die ersten Lieder bestanden aus freien, bereimten Psalmübertragungen. Die Wirkung war revolutionär. Vor allem das Lied "Ach Gott, vom Himmel sieh darein" nach Psalm 12 wurde ein reformatorisches Kampflied. In Lübeck löste es einen regelrechten Sängerkrieg aus. In Magdeburg und Göttingen zogen die Menschen mit diesem Lied singend durch die Stadt und taten unüberhörbar ihre Meinung kund.

 

Die Lieder wurden zuerst wieder als Einblattdrucke vertrieben, bis sie Ende 1523 oder Anfang 1524 im sogenannten Achtliederbuch von einem anonymen Herausgeber gesammelt wurden. Dieses noch recht locker zusammengefügte erste Gesangbuch der evangelischen Christenheit enthielt bereits vier Lieder von Martin Luther. Schon zu jener Zeit wussten Verleger und Drucker die Bedürfnisse des Publikums richtig einzuschätzen und beeilten sich, die neuen, beliebten Lieder so schnell wie möglich unters Volk zu bringen und so auch ihren finanziellen Schnitt zu machen.

 

1524 erschien das sogenannte Erfurter Enchiridion. Enchiridion heißt so viel wie Handbuch; es war also für die Hand des Sängers bestimmt und nicht dazu, auf dem Pult einer Priesterschaft gegenüber aufgelegt zu werden, wie es vorher Brauch gewesen war. Dieses Buch enthielt bereits 18 Lieder des Reformators. Von ihnen werden sieben heute noch gesungen.

 

Die unkontrollierte Verbreitung der lutherschen Lieder begünstigte natürlich auch einen Wildwuchs[, wie schon die Erfurter Liederbücher gezeigt hatten]. Es war an der Zeit, hier lenkend einzugreifen. Da kam Johann Walter (1496-1570). Er war Kirchenmusiker in Torgau und überzeugter Anhänger Martin Luthers. Sein Beitrag zur Musikentwicklung der Reformation bestand zunächst in der Herausgabe des Wittenbergischen Chorbüchleins. Es enthielt 38 deutsche Lieder, darunter bereits 24 von Martin Luther, und fünf lateinische Messen. Das Chorbüchlein erschien in vier getrennten Stimmheften für Sopran, Alt, Tenor und Bass; dabei lag die Melodie, den zeitgenössischen Gewohnheiten entsprechend, im Tenor, damals wohl Ténor betont, also der Halter der Melodie, des cantus firmus. Diese Ausgabe war für Chöre bestimmt; die Sätze zeugen von hoher Kunstfertigkeit und gehören zum Teil immer noch zum eisernen Bestand der evangelischen Kantoreien. Die Gemeinde sang die Lieder einstimmig. Das machte ein einstimmiges Gesangbuch notwendig; es erschien 1525 mit denselben Liedern wie im Chorbüchlein. Bereits 1526 wurde eine zweite Auflage nötig. 1529 druckte Peter Klug eine weitere Auflage, jetzt das Klugsche Gesangbuch genannt; leider ist es verschollen. Es existiert aber noch eine Auflage von 1533. Hier nun endlich findet sich das Lied, das zur Hymne der Reformation werden sollte: Ein feste Burg ist unser Gott. Wahrscheinlich war es auch schon in der 1529er Ausgabe enthalten; aber das ist ungewiss. Es ist eine freie Übertragung des Psalms 46:

Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge.“

 

Allerdings ist die Übertragung durchtränkt von der lutherischen Theologie. Es ist der „alt böse Feind“, der sich sauer stellt und gefällt werden muss, also der Teufel, von dem in Psalm 46 keine Rede ist. In kühner Interpretation identifiziert Luther unversehens den Gott des Alten Testamentes mit Jesus Christus. Heißt es im Psalm: „Der Herr Zebaoth ist mit uns“, so sagt Luther: „…er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth.“ Dennoch oder gerade deswegen schuf Luther ein in sich stimmiges Lied:

So sang es die Gemeinde 1529 oder vielleicht sogar noch eher: einstimmig, rhythmisch bewegt und hochgespannt. Von der Feierlichkeit späterer Zeiten ist hier noch wenig zu spüren. Diese Fassung, die Lucas Osiander 1586 für seinen vierstimmigen Satz verwendete, weicht in einem einzigen Ton von der Urfassung ab. Zunächst aber wurde auch dieses Lied von Johann Walter gesetzt, in klassischer Manier, die Tenorstimme hält die Melodie. In dieser Aufnahme werden die anderen Stimmen durch Instrumente gespielt.

 

Osiander setzte nun die Melodie in den Sopran und brachte die drei anderen Stimmen in eine homophone Begleitung ; das heißt, sie hatten bis auf wenige Ausnahmen den gleichen Rhythmus wie die Melodie. Das war der sogenannte Kantionalsatz, in dem die Lieder für die Gemeinde fortan gesetzt wurden. [Davon wurden auch die Begleitsätze für die Orgel abgeleitet, die erst dadurch in die Lage kam, den Gemeindegesang in allen Strophen zu begleiten, so, wie es heute der Kirchgänger gewohnt ist.]

 

Das Lied erwies sich als resistent gegenüber dem Verschleiß durch den Fortgang der Geschichte. Heinrich Schütz bearbeitete es, Dietrich Buxtehude und Johann Sebastian Bach und viele andere Komponisten schrieben Orgelchoräle darüber. Bach verwendete es zudem als machtvollen Eingangschor zu einer Kantate. Mendelssohn-Bartholdy schloss mit ihm die 5. Symphonie, die sogenannte Reformations-Symphonie.

 

Spätestens hier aber wird hörbar, dass die Melodie eine Wandlung durchgemacht hat. Statt der springenden Synkopen sind es nun ruhige Halbe, in denen sie fortschreitet. So erhält sie die Feierlichkeit, durch die sie sich dafür anbietet, als Hymnus [zu verschiedenen Gelegenheiten] missbraucht zu werden. Die Burg wurde dann ein deutscher Ausgangsort für kriegerische Attacken gegen Frankreich und andere Länder, die Waffen hörte man in den Händen von Soldaten klirren, und der alt böse Feind war zunächst der Franzose, dann der Russe oder gar der Jude. Das Reich, das uns doch bleiben muss, war nicht mehr das Reich Gottes, sondern das Deutsche Reich, das erste, zweite oder auch das dritte. Alle möglichen nationalistischen Vereine und militaristischen Verbände grölten dieses Lied zur Bekräftigung der eigenen Ziele und der eigenen Kraft; unterstützt von pausbackigen Militärkapellen. In diesem Sinne verwendeten es auch Otto Nicolay, Richard Wagner und Richard Strauss.

 

Übersehen wurde dabei, dass das Luther-Lied nicht menschliche Macht besingt, sondern Gottes Beistand und erst danach die menschliche Standhaftigkeit, zuerst die Kraft Jesu Christi und erst dann der Mut der Christenheit. Im heutigen Evangelischen Gesangbuch stehen beide Melodien untereinander, die rhythmisch gespannte, tanzende Martin Luthers und die geglättete, gravitätische Fassung der Folgezeit.

Martin Luthers Liedschaffen war ein Motor der Reformation, mindestens ebenso so stark wie seine Predigten und Schriften. Die Kraft seiner Lieder hat sich durch die Jahrhunderte bewährt; sie bilden bis heute ein unaufgebbares Glaubens- und Kulturgut.

Ebenso wichtig aber sind die musikgeschichtlichen Folgen. Die Technik, ein Lied für drei-, vier- oder fünfstimmigen Chor zu setzen mit der Melodie im Sopran, also der Kantionalsatz, eroberte sich die Kirchenchöre, die Kantoreien und die Posaunenchöre. Aber auch die weltliche Chormusik bedient sich dieser Technik; jedes Volkslied, ja, jeden Schlager kann man so bearbeiten. Martin Luther revolutionierte nicht nur die Theologie und die Kirche. Seine erneuernde Kraft gab der gesamten Musik des Abendlandes eine Farbe, die sie ohne ihn wohl nicht hätte bekommen können.

26.07.2015
Pastor Diederich Lüken