Gute Mächte in vordringender Nacht

Feiertag
Gute Mächte in vordringender Nacht
06.12.2015 - 07:05
26.07.2015
Gunnar Lammert-Türk

„Die ernsten, ernsten Adventslieder: die sind mein Trost. ...“

 

... schreibt Jochen Klepper am dritten Advent 1937 in sein Tagebuch. Er war am Morgen in der Kirche und hat eins der ihm besonders lieben Adventslieder gehört. Mit seiner Frau ist er über den Weihnachtsmarkt geschlendert, hatte nachmittags netten Besuch. Positive Kritiken zu seinem Roman über den Soldatenkönig „Der Vater“ liegen vor ihm. Er ist im Februar dieses Jahres erschienen. Im März wurde Klepper, weil er mit einer Jüdin verheiratet ist, aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. Das kommt einem Berufsverbot gleich.

 

So hat er Grund zum Trostsuchen. Fünf Tage zuvor, am 7. Dezember, hat er seine Situation im Tagebuch beklagt:

„Wo sind die Helfer alle, die sich mir im Frühjahr anboten? Was hat nur auch einer von ihnen nach all der schönen, unerwarteten Aufwallung für mich getan? Der Gang zum Briefkasten draußen kommt mir immer härter an. Von der Politik und Literatur her ist nun für mich alles unerträglich geworden. Todmüde. Doch stumpft man nicht ab; man wird immer verwundbarer. Ganz mechanisch erledige ich nun noch einmal das Pensum der mir möglichen Unternehmungen. Es geschieht Hannis wegen. Ich glaube nicht an Aktionen. Gott will im Dunkel wohnen, und das Dunkel kann nur durchstoßen werden durchs Gebet.“

 

Davon ist der Theologe und Schriftsteller überzeugt: Gott ist im Dunkel anwesend – im Dunkel seiner Zeit; im Dunkel des Advent, auch im Dunkel seines Lebens. Es war immer enger geworden. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten hatte Klepper, bis Oktober 1932 SPD-Mitglied, seine Arbeit beim Rundfunk verloren. Die beim Ullstein-Verlag verlor er seiner jüdischen Frau wegen. Und die Erniedrigung und Einschränkung der Juden schritt bedenklich fort. Hinzu kam die Angst vor einem neuen Krieg. Ganz in der Nähe in Lankwitz gab es schon länger Flakübungen. Der Christ Klepper findet Trost in den alten Adventsliedern. Kaum eine Woche nach der darauf bezogenen Tagebucheintragung schreibt er selbst Weihnachtslieder mit einem adventlichen Ton. Am 17. Dezember das erste. Einen Tag darauf steht im Tagebuch:

„Ich schrieb am Nachmittag ein zweites Weihnachtslied: ‚Die Nacht ist vorgedrungen ...‘“

 

Es ist das schönste seiner Lieder. In der letzten Strophe nimmt Klepper dichterisch seine Bemerkung vom Dunkel, in dem Gott wohnt, noch einmal auf.

Gott will im Dunkel wohnen / und hat es doch erhellt. /

Als wollte er belohnen, /so richtet er die Welt.

Der sich den Erdkreis baute, / der lässt den Sünder nicht.

Wer hier dem Sohn vertraute, / kommt dort aus dem Gericht.

 

Die erste Strophe seines Gedichts hat Klepper an einer Stelle im Römerbrief des Paulus orientiert, wo steht: „Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichtes.“ In seinen Worten klingt es wie ein Seufzer, ein stiller Erlösungswunsch, der die ganze Spannung des Advent und auch die seiner Lage zum Ausdruck bringt: den ersehnten Übergang von der Nacht der Bedrängnis zum Tag der Errettung.

Die Nacht ist vorgedrungen, / der Tag ist nicht mehr fern.

So sei nun Lob gesungen / dem hellen Morgenstern.

Auch wer zur Nacht geweinet, / der stimme froh mit ein.

Der Morgenstern bescheinet / auch deine Angst und Pein.

 

Die Nacht ist vorgedrungen wurde 1938 mit 28 anderen geistlichen Gedichten in dem Buch „Kyrie“ veröffentlicht. Über eine Sondergenehmigung realisiert, war es im Grunde Kleppers letzte offizielle Veröffentlichung unter seinem Namen. Bald wurden Texte daraus vertont und auch in manchen Kirchen während der NS-Zeit gesungen. Und Kleppers Freund, der evangelische Pfarrer Harald Poelchau, gab die Lieder als Gefängnisseelsorger an die Gefangenen in den Haftanstalten Tegel und Plötzensee weiter. Dort war seit Sommer 1944 auch der Jesuit Alfred Delp inhaftiert, seiner Mitarbeit im „Kreisauer Kreis“ wegen. Delp befasste sich intensiv mit dem Thema Advent. Insbesondere während der NS-Zeit schrieb er tiefsinnige Predigten und Meditationen dazu. In seiner Predigt zum ersten Advent 1941 nimmt er auf die Stelle im Römerbrief Bezug, die Kleppers Grundlage für sein Lied war.

 

Er interpretiert sie als Zeugnis persönlicher Erschütterung und folgert:

„Es fehlt vielleicht uns modernen Menschen nichts so sehr als die echte Erschütterung: wirklich da, wo das Leben fest ist, seine Festigkeit zu spüren, und da, wo es labil ist und unsicher ist, und haltlos ist und grundlos ist, das auch zu wissen und das auch auszuhalten. Das ist vielleicht die allerletzte Antwort auf die Frage, warum uns Gott in diese Zeit geschickt hat und warum er diese Wirbel über die Erde gehen läßt und warum er uns so ins Chaos hinein-hält und ins Aussichtslose und ins Dunkle und warum von all dem kein Ende abzusehen ist: weil wir in einer ganz falschen und unechten Sicherheit auf der Erde gestanden haben.“

 

Wach werden zu sich selbst müsse der Mensch, sagt Delp. Das Leben ist grundsätzlich adventlich, behauptet er, denn es sei von einem immerwährenden Hunger und Durst, einer Sehnsucht, erfüllt. So stehe es auch um den Menschen, auch er hungert und dürstet nach etwas, sei ungeborgen, ein Umherziehender und Suchender. Er lasse sich aber immer wieder beruhigen mit unzureichenden und falschen Zusagen und Behauptungen wie denen der NS-Ideologie und verfehle so sein Wesen. Zu diesem gehöre auch, dass er kein Genüge an sich selbst finden kann. In einer Predigt, die er in Gefangenschaft zum dritten Advent 1944 schrieb, heißt es:

„Es gehört zum Wesen des Menschen, über sich hinaus zu müssen, sonst wird er ein geistiger Bourgeois, dickblütig und stickig und schwerfällig und behäbig. Wer nur Mensch und sonst nichts sein möchte und nicht mehr von sich weiß, als die menschlichen Alltäglichkeiten und alltäglichen Menschlichkeiten, der vegetiert bald nur noch.“

 

Solches Vegetieren, ausgeliefert an die menschenverachtende NS-Herrschaft durch einen Mangel an innerer und äußerer Gegenwehr, sieht Delp in seiner Zeit verbreitet. Auch dagegen steht der Weckruf des Advent und gegen die Lähmung, die das Wesen des Menschen verschüttet hat wie die Straßen unter dem Schutt zerbombter Häuser verborgen sind. Um wieder adventlich Gott entgegen zu gehen, müssten die Christen dringlicher, ernster als zuvor seine Nähe suchen, sagt er in seiner Predigt zum vierten Advent:

„Es ist die Zeit der großen Beter gekommen, die unsere Not und unsere Nacht vor Gott hintragen und zugleich durch die Verfassung und Lebendigkeit ihrer Herzen dafür sorgen, daß die Zeit von innen her Gott verbündet wird. Das große Rufen nach Gott muß anheben und darf nicht mehr nachlassen. Man muß ihn beim Wort nehmen.“

 

Alfred Delps dringliche Aufforderung zum adventlichen Gebet ist keine Absage an das Handeln. Aber er ist überzeugt, dass in der zugespitzten Lage jede Tat geistlich durchdrungen sein sollte, sie kann und wird unter Umständen das Opfer der Handelnden verlangen. So ist das Gebet die nötige Vorbereitung darauf und zugleich selbst eine wesentliche Tat. Der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider sah das ebenso. In seinem bereits 1936 geschriebenen, aber erst 1941 veröffentlichten Sonett Jetzt ist die Zeit drückte er es so aus:

Allein den Betern kann es noch gelingen, / das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten

und diese Welt den richtenden Gewalten / durch ein geheiligt Leben abzuringen.

 

Denn Täter werden nie den Himmel zwingen: / Was sie vereinen, wird sich wieder spalten,

was sie erneuern, über Nacht veralten / und was sie stiften, Not und Unheil bringen.

 

Das Sonett gehört zu den Gedichten, die in ganz Deutschland geheim kursierten und viele Menschen stärkten, zumindest im inneren Widerstehen. Mit Schreibverbot belegt, publizierte Schneider illegal, an der NS-Zensur vorbei. Von seiner 1941erschienenen Trostschrift Das Vaterunser wurden eine halbe Million Exemplare hergestellt. Schneiders Essays zur Geschichte griffen nicht nur die NS-Politik an. Sie brachten auch seine Überzeugung zum Ausdruck, dass Geschichte in der Tiefe eine Auseinandersetzung zwischen Gott und seinen Widersachern ist. In diesem Sinne steht in seiner Essaysammlung Macht und Gnade der Satz:

Von nun an ist Geschichte Advent, Erwartung der Schrecken und des Heils.

 

Sah Reinhold Schneider die Geschichte als eine Art Kampfplatz zwischen Gott und widergöttlichen Mächten, so war sie für Alfred Delp der Bewährungsort des christlichen und adventlichen Menschen. Er nahm dabei Bezug auf Johannes den Täufer, den leidenschaftlichen, widerständigen Bußprediger und Wegbereiter des Erlösers. In seiner Predigt zum vierten Advent, die Delp in der Haft verfasste, fand er dafür ergreifende Töne:

„Als die und die Männer das Gesetz der geschichtlichen Stunde repräsentierten, als die Geschichte so aussichtslos und ungeistig war bis in das Heiligtum des Herrn hinein: da erging das Wort an Johannes. Und das Ergebnis? Die Stimme erschallt, das Volk gerät in Bewegung, die Wasser des Jordan werden zum Bad der Befreiung. Der große Umbruch wird verkündet, dem Leben eine ungeheure Verheißung zuteil. Die Enge fällt, Fenster werden aufgestoßen, die den Blick ins Weite freigeben. Das heißt: es gelingt.“

 

Hier klingt auch Selbstermunterung an. Delp, dessen Predigten, Briefe und Meditationen aus dem Gefängnis geschmuggelt werden, schreibt sie mit gefesselten Händen. Immer wieder muss er in Gestapoverhören Folter ertragen. Dem Vorbild des Täufers folgend, ist er überzeugt, dass der Einsatz für Wahrheit und Recht, dass Glaube und Überzeugung nicht von Erfolgsaussichten bestimmt sein dürfen, nicht vom Beifall der Massen und nicht von der Sorge um das eigene Wohl. Auch das sagt ihm der Advent, den er in der Haft besonders nah erlebt.

„Den diesjährigen Advent sehe ich so intensiv und ahnungsvoll wie noch nie. Wenn ich in meiner Zelle auf und ab gehe, drei Schritte hin und drei Schritte her, die Hände in Eisen, vor mir das ungewisse Schicksal, dann verstehe ich ganz anders als sonst die alten Verheißungen vom kommenden Herrn, der erlösen und befreien wird. Der Schrecken dieser Zeit wäre nicht auszuhalten – wie überhaupt der Schrecken, den uns unsere Erdensituation bereitet, wenn wir sie begreifen –, wenn nicht dieses andere Wissen uns immer wieder ermunterte und aufrichtete, das Wissen von den Verheißungen, die mitten im Schrecken gesprochen werden und gelten.“

 

Auch Dietrich Bonhoeffer erlebt den Advent seiner letzten Lebenszeit in der Haft. Wie Alfred Delp sitzt er in Tegel, zum Ende hin im berüchtigten Gestapogefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße. Wie Delp vom Gefängnisseelsorger Harald Poelchau betreut, könnte er von diesem die Klepper-Lieder zur Stärkung erhalten haben. Wie Delp wird auch ihm die Situation in der Einzelhaft zum adventlichen Sinnbild. Am 21. November 1943 schreibt er an seinen Freund und Mitstreiter in der Bekennenden Kirche Eberhard Bethge:

„Heute ist Totensonntag. ... Dann kommt die Adventszeit, an die wir so viele gemeinsame schöne Erinnerungen haben. Die Welt dieses Musizierens, wie wir es Jahre hindurch in den Adventswochen getrieben haben, hast Du mir eigentlich erst aufgeschlossen. So eine Gefängniszelle ist übrigens ein ganz guter Vergleich für die Adventssituation; man wartet, hofft, tut dies und jenes – letzten Endes Nebensächliches – die Tür ist verschlossen und kann nur von außen geöffnet werden.“

 

Die Zellentür bleibt für Bonhoeffer verschlossen. Aber die Türen seines Geistes und seines Herzens weiten sich noch einmal in der Haft. Das zeigen auch einige Gedichte, die er in dieser Zeit verfasst. Sein schönstes, Von guten Mächten, schreibt er in seinem letzten Advent, im Dezember 1944. Er schickt es seiner Verlobten Maria von Wedemeyer am 19. Dezember dieses Jahres. Und nennt zu ihrer Tröstung das, was er zu den guten Mächten zählt.

„So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und meine Studenten an der Front, sie alle sind für mich stets gegenwärtig. Deine Gebete, gute Gedanken, Worte aus der Bibel, längst vergangene Gespräche, Musikstücke und Bücher – das alles gewinnt Leben und Realität wie nie zuvor. Es ist eine große unsichtbare Welt, in der man lebt. An ihrer Realität gibt es keinen Zweifel. Wenn es in dem alten Kinderlied von den Engeln heißt: ‚zwei, um mich zu decken; zwei, um mich zu wecken‘ - so ist diese Bewahrung durch gute unsichtbare Mächte am Morgen und in der Nacht etwas, das Erwachsene heute genau so brauchen wie die Kinder. Darum sollst du nicht denken, ich wäre unglücklich.“

 

Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp, Reinhold Schneider, Jochen Klepper – für sie alle war die Beschäftigung mit dem Advent prägend und eine Hilfe, das Dunkel ihrer Zeit zu durchdringen. In der Gewissheit, der Klepper Ausdruck verliehen hat: „Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt.“ Er selbst konnte dem Dunkel nicht entrinnen. Als die Deportation für seine Frau Johanna und ihre Tochter Renate drohte, nahmen sie sich in der Nacht vom 10. zum 11. Dezember 1942 gemeinsam das Leben. Auch dann noch Gottes Nähe erhoffend, die Klepper im Advent so stark empfunden hat. Immer wieder beschrieb er die Sonntage im Advent. So auch den vierten 1937, dem Jahr, in dem sein schönes Adventslied entstand:

„Groß und schön ging die Sonne auf, zart beglänzte sie die Tanne draußen und die voll blühenden Alpenveilchen im Fenster davor. Groß, klar, glühend, kreisrund, doch gedämpft wie durch einen Eishauch, sank die Sonne, indes die stillen Gärten sich in Nebel hüllten. Schnee und Nebel: das ist die tiefste Stille. Des Mondes wird man nicht mehr gewahr. So sehr verhängt ist der Himmel des Abends. In der Markuskirche in Steglitz. Sie war so schön geschmückt: der große Adventsstern der Brüdergemeine, die beiden kleinen Adventsbäumchen mit zwei Lichterreihen davor, der Adventskranz auf dem Taufbecken.“

 

Solche Stimmungsbilder sind von Alfred Delp nicht überliefert. In seiner Meditation Gestalten im Advent, wie gesagt: geschrieben mit gefesselten Händen, malt Alfred Delp am Ende ein Adventsbild ganz eigener Art:

„Noch erfüllt der Lärm der Verwüstung und Vernichtung, das Geschrei der Selbstsicherheit und Anmaßung, das Weinen der Verzweiflung und Ohnmacht den Raum. Aber ringsherum am Horizont stehen schweigend die ewigen Dinge mit ihrer uralten Sehnsucht. Über ihnen liegt bereits das erste milde Licht der kommenden strahlenden Fülle. Von dorther erklingen erste Klänge wie von Schalmeien und singenden Knaben. Sie fügen sich noch nicht zu Lied und Melodie; es ist alles noch zu fern und erst verkündet und angesagt. Aber es geschieht. Dies ist heute. Und morgen werden die Engel laut und jubelnd erzählen, was geschehen ist, und wir werden es wissen und werden selig sein, wenn wir dem Advent geglaubt und getraut haben.“

 

 

Musik dieser Sendung:

(1) Die Nacht ist vorgedrungen, Katrin Haag. Thomas Wahl, Wie soll ich Dich empfangen?

(2) Hymnus – In Adventu Domini, Ensemble Amarcord, In Adventu Domini

(3) Christmas Lullaby, Estonian Philharmonic Chamber Choir. Tallinn Chamber Orchestra, Arvo Pärt – Adam’s Lament

(4) O Heiland reiß die Himmel auf, Ensemble Amarcord, In Adventu Domini

(5) Von guten Mächten wunderbar geborgen, Jay Alexander. Czech Symphony Orchestra, Geh aus mein Herz

(6) Silouans Song, Tallinn Chamber Orchestra, Arvo Pärt – Te Deum

26.07.2015
Gunnar Lammert-Türk